Fall Müstair: Kirchenrechtler sieht Handlungsbedarf

Kirchenrechtler Thomas Schüller war mit den Vorwürfen gegen einen Churer Priester befasst, bereits bevor es zur Anzeige bei Staatsanwaltschaft und Bischof kam. Der Experte erklärt, wo er nun Handlungsbedarf sieht.

Thomas Müller
Thomas Schüller, Professor für Kirchenrecht, ist auch Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Münster und Opferanwalt.

Bischof Bonnemain hat über einen beschuldigten Priester die Vorsichtsmassnahme ausgesprochen, ausschliesslich als Spiritual des Klosters Müstair zu wirken. Schöpft er damit seine rechtlichen Möglichkeiten aus? 

Zunächst: Es gibt für einen Bischof wahrscheinlich kaum eine schwierigere Aufgabe als den Umgang mit einem beschuldigten, aber nicht verurteilten Priester. Die Schwierigkeit ist das Abwägen zwischen der Unschuldsvermutung, die der Wahrung des guten Rufs des Priesters gilt – und der ernsten Sorge, potenzielle weitere Opfer zu verhindern. Der Fall Müstair ist keine Kleinigkeit, es handelt sich um die Anzeige einer schweren Sexualstraftat. Dementsprechend streng müssen die Massnahmen sein.

Bischof Bonnemain hat in meinen Augen die richtige Massnahme gewählt. Der beschuldigte Priester ist als Spiritual in einem Frauenkloster eingesetzt und sein Wirkungsfeld ist auf dieses beschränkt. Das Frauenkloster scheint ein Raum zu sein, in dem die Gefahr minimal ist: Der Vorwurf gegen den Priester ist ja, er habe eine schwere Sexualstraftat gegen einen jungen Mann begangen.

Könnte Bischof Bonnemain mehr tun und strenger vorgehen?

Was ich nicht verstehe: Warum wurden immer wieder Ausnahmen von der Vorsichtsmassnahme zugelassen? Dadurch ergibt sich jedes Mal neues Gefahrenpotenzial. Wenn der Priester auswärts Sakramente spendet, selbst unter Freunden, trifft er allenfalls auf Ministranten, auf junge Menschen. Wenn es da zu einem erneuten Übergriff kommen sollte, wird sich Bischof Bonnemain auch gegenüber dem Papst der Verantwortung stellen müssen, ob er ausreichend Fürsorge getroffen hat, neue Opfer zu verhindern.

Laut Recherchen von RTR, dem rätoromanischen Fernsehen, wurden bislang fünf Ausnahmen gewährt.

Das scheint mir definitiv zu viel zu sein und klingt für mich nach einem fahrlässigen, leichtsinnigen Verhalten. Der Priester muss dazu angehalten werden, sich gehorsam und geduldig zu verhalten. Vor allem angesichts der Tatsache, dass er als Spiritual im Kloster Müstair ja das Glück hat, seine Weihegewalt ausüben zu können und dort auch vollumfänglich versorgt wird.

Hintergrund

Im Kloster Müstair wirkt ein Priester, der wegen sexueller Nötigung angeklagt ist. Bis die Staatsanwaltschaft Graubünden ein Urteil spricht, hat der zuständige Bischof Joseph Maria Bonnemain eine Vorsichtsmassnahme erlassen: Der beschuldigte Priester darf ausschliesslich als Spiritual des Klosters wirken und nur dort Sakramente spenden. Ein Medienbericht, laut dem der Beschuldigte die Massnahme ignoriert und Verantwortliche deren Einhaltung nicht entsprechend überprüfen, hatte öffentliche Aufmerksamkeit auf den Fall gelenkt.

Vor der Strafanzeige im Jahr 2023 durch den Kläger Josef Henfling war der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller vom kirchenrechtlichen Anwalt des Klägers zu einer kirchenrechtlichen Plausibilierungsprüfung beigezogen worden. Es ging um die Frage, ob nach staatlichem und kirchlichem Recht von einem begründeten Anfangsverdacht gesprochen werden kann. Thomas Schüller hatte dies bejaht.

Bischof Bonnemain sagt, für weiteren Schritte neben der Vorsichtsmassnahme fehle ihm die rechtliche Grundlage, das wäre Willkür. Was antworten Sie ihm?

Das klingt für mich nach einer unzutreffenden Beschreibung seiner Amtsgewalt. Bonnemain ist als Bischof der Ordinarius, der rechtlich über die stärksten Vollmachten verfügt neben dem Papst. Er ist kein zahnloser Tiger.

Auch wenn Bischof Bonnemain den Priester selbst nicht geweiht hat – der Priester ist in seinem Bistum inkardiniert und untersteht dem Gehorsam gegenüber dem amtierenden Bischof. Er hat seine Klerikerpflichten zu erfüllen, den Gehorsam, die Keuschheit und – bei einer Anordnung von Vorsichtsmassnahmen – hat er sich strikt daran zu halten.

Wer sich weihen lässt, gibt einen Teil seiner bürgerlichen Freiheitsrechte ab. Gerade konservative Kleriker betonen gern, wie wichtig es sei, dass ihre Rechte und Pflichten als Priester geachtet werden. Sie haben sich dann aber auch in einer schwierigen Situation der bischöflichen Vollmacht zu fügen. Diese beinhaltet, dass der Bischof nach allgemeinem Klerikerdienstrecht Amtsbeschränkungen aussprechen darf.

Wer müsste sinnvollerweise kontrollieren, ob sich der Beschuldigte wirklich an die Auflage hält?

Die Auflagen müssen durch qualifizierte externe Sozialarbeiter oder Bewährungshelferinnen überprüft werden. Kleriker neigen unter Klerikern gern zu Ausnahmen, sie sind auf der mitbrüderlichen Schiene beeinflussbar und sie neigen erfahrungsgemäss zu Gutgläubigkeit. Mein Rat wäre hier, die Überprüfung der Massnahmen gut ausgebildeten Sozialarbeitenden zu übertragen, die sich im Umgang mit potenziellen und überführten Sexualstraftätern auskennen. In der deutschen Diözese Essen oder dem Schweizer Bistum Lausanne, Genf und Freiburg beispielsweise wird dies bereits so gemacht, mit gutem Erfolg.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass solche externen Expertinnen und Experten mit den kirchlichen Spezifika und mit den kirchenrechtlichen Gegebenheiten überfordert wären?

Man kann Leute, die mit dieser Aufgabe betraut werden, kirchenrechtlich und strafrechtlich fit machen. In den genannten Diözesen hat man das gut hinbekommen und macht gute Erfahrungen damit. Zwei bis drei qualifizierte Fachkräfte für diesen Bereich wären ausreichend.

Was genau ist die Aufgabe dieser Fachpersonen?

Sie machen regelmässig Besuche, sprechen mit den Beschuldigten, kontrollieren Chat-Verläufe. Sie sind selbstverständlich berichtspflichtig gegenüber dem Bischof und dem zuständigen Generalvikar. Alle Beteiligten müssen regelmässig da drauf schauen.

Neben der Kontrolle ist dies auch eine Form der Mitmenschlichkeit. Auch Beschuldigte brauchen menschliche Kontakte, nicht selten kommen sie schnell in soziale Isolation. Die Fachpersonen sprechen regelmässig mit ihnen, fragen, wie es ihnen in dieser belastenden Situation geht: menschlich, gesundheitlich, psychisch. Im Fall Müstair dauert die Situation bereits zwei Jahre an – das ist unzumutbar! Ein Bischof oder ein Generalvikar, die beide notorisch viel um die Ohren haben, können diese menschliche Aufmerksamkeit gar nicht leisten. Der Beizug von Fachpersonen ist also notwendig: um der Prävention willen und um der Beschuldigten willen.

Gibt es ein Bistum, das eine Rechenschaftspflicht auch für den Bischof in solch einer Situation eingeführt hat?

Nein, das gibt es weltweit noch nicht. Allerdings wurde auf der römischen Synode im Jahr 2024 diese wesentliche Forderung verabschiedet, die sich sowohl Papst Franziskus als auch Papst Leo zu eigen gemacht haben. Papst Leo hat eine Arbeitsgruppe mit dieser Frage betraut. Im Juni 2026 werden die Ergebnisse erwartet. Momentan ist es weiterhin so, dass ein Bischof – selbst wenn er ein ausgewiesener Experte ist wie Joseph Bonnemain – auf sich selbst zurückgeworfen ist und mit derartigen Entscheiden allein gelassen wird.

Bischof Bonnemain sagt im Interview mit RTR, er überlege, wie er richtig handeln könne. In welche Richtung könnte er da denken?

Er könnte den Priester nachdrücklich ermutigen, sich einen Anwalt zu nehmen – falls er diesen nicht bereits hat. Dieser sollte unbedingt nach dem Schweizer Strafprozessrecht die Möglichkeit nützen, ein Beschleunigungsgebot bei der Generalstaatsanwaltschaft in Gang zu setzen, bei jener Behörde also, die der Staatsanwaltschaft Graubünden übergeordnet ist. Da bräuchte es dann auch medialen Druck: Warum lässt man den Priester so lange in der Luft hängen? Mit ein paar Mal anrufen bekommt man keine Strafverfolgungsbehörde in Bewegung, hier könnte man die rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen.

Wie sinnvoll ist es, in einem Bistum für den Umgang mit beschuldigten Priestern Partikularrecht zu erlassen?

Sehr sinnvoll. Bischof Felix Genn hat im Bistum Münster eine Disziplinarordnung geschaffen mit einem partikularen Gesetz für die im Kodex festgehaltenen Klerikerdienstpflichten. Dies in Rücksprache mit römischen Dikasterien im Vatikan. Wir haben in Münster also die positive Rückmeldung aus Rom erhalten, dass es gut ist, was Bischof Genn hier vorangebracht hat.
Es macht Sinn, eine partikularrechtliche Grundlage zu schaffen, wie der Bischof mit dieser schwierigen Situation umgehen kann. Das Bistum Münster hat es vorgemacht, in Deutschland werden die 26 anderen Diözesen dies nach und nach übernehmen. Bischof Bonnemain könnte es an die Schweizer Situation anpassen.

Sobald das Urteil gefällt ist, wird Bischof Bonnemain die kanonische Voruntersuchung weiterführen und prüfen, ob eine kanonische Untersuchung eröffnet wird. Was ist davon zu erwarten?

Unabhängig davon, wie das staatliche Urteil und die staatsanwaltlichen Ermittlungen ausfallen werden, muss der Bischof denselben angezeigten Sachverhalt erforschen und prüfen: den Kläger anhören, den Beschuldigten, die Anwälte, allfällige Zeugen. Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis der Bischof kommt, sein Ergebnis muss er mit einer eigenen Stellungnahme nach Rom schicken. Dort wird die Entscheidung getroffen, wie mit dem beschuldigten Priester weiter umzugehen ist.

Aus der Erfahrung muss man sagen, dass es ungemein schwierig ist, Sexualstraftaten gerichtsfest zu beweisen, vor allem, wenn es sich um zwei erwachsene Menschen handelt, und Aussage gegen Aussage steht. Nicht selten werden die Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt, was für die Opfer wiederum äusserst schwierig sein kann.

Angesichts der konkreten Situation in Müstair: Sehen Sie Handlungsbedarf?

In zwei Punkten ja. Erstens, die vom Bischof zutreffend verfügten Massnahmen müssten durch eine externe Fachperson, die kein Kleriker ist, kontrolliert werden. Zweitens, die Zahl der Ausnahmen von der Vorsichtsmassnahme müsste deutlich reduziert werden, um das Risiko weiterer Opfer zu minimieren. Bischof Bonnemain sollte sich nicht selbst unter den Verdacht stellen, jener zu sein, der die Gewährung von Ausnahmen prüft – er sollte sich hierbei externe Expertise holen. Wenn Priester Priester kontrollieren, geht das erfahrungsgemäss meist nicht gut aus.

Empfehlenswert wäre darüber hinaus, dass Bischof Bonnemain die diözesane Gesetzgebung des Klerikerdienstrechts präzisiert, zum Beispiel angelehnt an die neue Disziplinarordnung im Bistum Münster.

Thomas Schüller (*1961), Professor für Kirchenrecht und Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, zwischen 1993 und 2009 Leiter der Rechtsabteilung Kirchliches Recht und Bischofsnotar im Bischöflichen Ordinariat Limburg, Kirchenanwalt im Bischöflichen Offizialat Limburg und Persönlicher Referent von Bischof Franz Kamphaus. Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Münster (UAK) und langjähriger Opferanwalt.

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