Fall Müstair: Das Problem des Wartens

Im Kloster Müstair wirkt ein Priester, der wegen sexueller Nötigung angeklagt ist. Er soll sich laut Medienbericht nicht an erlassene Vorsichtsmassnahmen halten. Wir haben bei den Verantwortlichen nachgefragt.

Kloster Müstair
Im Benediktinerinnenkloster St. Johannes Baptist in Müstair im Münstertal GR leben aktuell acht Nonnen.

Am 6. Oktober veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Printausgabe einen Beitrag mit dem Titel «Das Prinzip des Wegschauens»: Ein Churer Priester, gegen den die Staatsanwaltschaft seit zwei Jahren ermittle, halte sich nicht an die vorsorglichen Massnahmen, die der zuständige Bischof Joseph Maria Bonnemain erlassen habe. Der vor Ort zuständige Dekan von Engadin/Val Müstair, der die Einhaltung der bischöflichen Auflagen kontrollieren solle, setze diese ausserdem nicht durch. Am 8. Oktober übernahm die Südostschweiz online den Beitrag.

Ebenfalls am 8. Oktober reagierte der Vorstand der Interessensgemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld in einer schriftlichen Stellungnahme und zeigte sich «zutiefst erschüttert» über den dargestellten Sachverhalt. Vor allem die Beauftragung eines «örtlichen Vertreters» würde auf Grund der «örtlichen und persönlichen Nähe eine wirksame Kontrolle verunmöglichen». Als Betroffenenvertreter erwarteten sie zudem eine transparente Kommunikation und dass bei Fragen der Prävention und Missbrauchsbekämpfung nicht mehr jedes Bistum für sich handle: «Es braucht endlich nationale, für alle Bistümer verbindliche Regelungen, deren Umsetzung extern geprüft wird.»

Am 10. Oktober dementierte das Bistum laut kath.ch, dass «Ortsvertreter» für die Einhaltung vorsorglicher Massnahmen sorgen sollten: Verantwortlich dafür sei vielmehr der regional zuständige Generalvikar für die Bistumsregion Graubünden. Offen bleibt an dieser Stelle, ob der Priester die Auflagen nun einhalte oder nicht.


«Der beschuldigte Priester hält sich an die Massnahmen. Er hat sich zu jeder Zeit daran gehalten.» Bischof Joseph Maria Bonnemain

Im Gespräch mit dem Forum Magazin sagt Bischof Joseph Maria Bonnemain nun: «Ja, der beschuldigte Priester hält sich an die Massnahmen. Er hat sich zu jeder Zeit daran gehalten.» Eine Aussage, die Generalvikar Peter Camenzind bestätigt, der tatsächlich für die Kontrolle der Einhaltung derselben verantwortlich ist. Bonnemain führt weiter aus, dass er nach den Medienberichten am Sonntag, 19. Oktober das direkte Gespräch mit dem Priester gesucht habe. Er habe mit ihm die aktuellen «Vermutungen» ausräumen können und habe ihm einmal mehr die ausnahmslose Einhaltung der Vorsichtsmassnahmen eingeschärft: «Er hat mir zugesichert, sich daran zu halten.»

Die im Dezember 2023 beschlossenen und bis heute gültigen Vorsichtsmassnahmen umfassen laut Bonnemain konkret: Der Priester dürfe ausschliesslich innerhalb des Klosters Müstair als Spiritual der Schwestern tätig sein; Sakramente dürfe er einzig für die acht verbliebenen Schwestern spenden; Ausnahmen, etwa wenn er von Freunden für eine Trauung oder eine Taufe angefragt werde, müsse er Generalvikar Camenzind vorlegen, der wiederum beim Bischof vorspreche. Das Procedere sei eingehalten worden, versichern sowohl Bonnemain wie Camenzind, etwa vier Ausnahmen habe es in den bisherigen zwei Jahren gegeben.

Der in Müstair lebende Dekan und Pfarrer Matthias Rey zeigt sich erbost über die von ihm als rufschädigend wahrgenommene Darstellung seiner Person im erwähnten Beitrag in NZZ und Südostschweiz, sowie über die unrichtige Wiedergabe seiner vermeintlichen Verantwortung: «Ich habe von niemandem je einen Auftrag erhalten, die Einhaltung der Massnahmen zu kontrollieren», gibt er zu Protokoll, was Bonnemain und Camenzind bestätigen. Auch dementiert er, dass der unter Verdacht stehende Priester Aushilfen in seiner Abwesenheit mache. Dass sich der Priester an die Auflagen halte, untermauert er mit einer Darstellung der Folgen vor Ort: «Der einsatzfreudige Priester muss jetzt zusehen, wie in Nachbarpfarreien Sonntagsmessen und (gut genutzte!) Beichtgelegenheiten ausfallen und wie sowohl ich als auch meine Haushälterin unter massiver Mehrbelastung leiden.» Auch habe die notwendige Auferlegung der Vorsichtsmassnahmen praktische Konsequenzen: «Wir reden darüber, wie er sonst Geld verdienen könnte, zum Beispiel mit Taxifahren etc. Zudem unterstütze ich ihn finanziell, dass er nicht verhungert.»


«Ich bedaure, dass dies nun seit zwei Jahren ungeklärt bleibt.» Bischof Joseph Maria Bonnemain

Tatsächlich steht der Priester zwar unter Verdacht der sexuellen Nötigung und ist bei der Staatsanwaltschaft angezeigt – rechtskräftig verurteilt und für schuldig befunden ist er aber nicht. Tatsächlich schränkt die bischöfliche Massnahme seinen Wirkungsraum ein – obwohl für ihn weiterhin die Unschuldsvermutung gilt. Eine Gratwanderung: Bischof Bonnemain hält die von ihm selbst verfügten Vorsichtsmassnahme zwar klar für gerechtfertigt, meint aber, sie sei «schon am Rande der gesetzlichen Möglichkeiten». Durch die Einschränkung des Wirkungsraumes «grenzt sie an eine Disziplinarmassnahme». Auch ein Bischof brauche für derartige Entscheide eine rechtliche Grundlage, und zwar eine des staatlichen und eine des kirchlichen Rechts. Gerade, wenn die Forderung im Raum stünde, strenger mit dem beschuldigten Priester umzugehen: «Ich habe keine juristische Grundlage, weiterreichendes wie etwa Disziplinarmassnahmen oder gar Strafen gegen den Verdächtigten zu verhängen. Ich brauche erst einen Entscheid der Staatsanwaltschaft – alles andere wäre Willkür.» 
Auch die kanonische Voruntersuchung, die Bischof Bonnemain innerkirchlich gegen den Beschuldigten 2023 eröffnet hat, könne er erst voranbringen, wenn die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abgeschlossen seien. Regelmässig erkundige sich Generalvikar Camenzind bei der Staatsanwaltschaft nach dem Abschluss des Verfahrens. Bonnemain: «Ich bedaure, dass dies nun seit zwei Jahren ungeklärt bleibt.»

Seit zwei Jahren liegt der Fall also bei der Staatsanwaltschaft Graubünden. Im Unterschied etwa zu einem Fall im Kanton Tessin im Jahr 2024 hat die Staatsanwaltschaft ihrerseits keinerlei vorsorgliche Massnahmen wie etwa eine Untersuchungshaft verhängt. Der Fall ist komplex, was die Wartezeit erklären könnte: Die Anklage hängt in drei Ländern – neben der Schweiz auch in Deutschland und Österreich, der Kläger Josef Henfling wirft neben besagtem Priester im Bistum Chur zwei weiteren Priestern aus Österreich sowie dem emeritierten deutschen Bischof Walter Mixa Übergriffe vor.

Für die Churer Verantwortlichen Bonnemain und Camenzind wie für den Beschuldigten bedeutet das Warten auf einen rechtskräftigen Entscheid, die erwähnte Massnahme – auf unbestimmte Zeit – aufrecht zu erhalten. Der in Frage stehende Priester selbst war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Bis ein Urteil gesprochen ist, soll Peter Camenzind als kircheninterne Person die Einhaltung der Massnahme kontrollieren. Warum wird keine externe, unabhängige Person für diese Aufgabe herangezogen? Bischof Bonnemain: «Die Überprüfung der vom Bischof beschlossenen Massnahme ist Aufgabe des Bischofs. Und diese delegiere ich – wie manche andere Aufgabe – meinem zuständigen Generalvikar.» Darüber hinaus halte er das Wissen um die kirchenrechtlichen Zusammenhänge und auch um die kirchliche Praxis für eine notwendige Voraussetzung für eine derartige Kontrolle, sonst sei die Überforderung vorprogrammiert.


«Eine Kontrolle des Bischofs ist im kirchlichen System nicht vorgesehen.» Stefan Loppacher

Bleibt die Frage, wer die Kontrollierenden kontrolliert? Stefan Loppacher, Leiter der nationalen Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» meint dazu: «Eine reale Kontrolle des Handelns eines Bischofs in solchen Angelegenheiten ist im bisherigen kirchlichen System schlichtweg nicht vorgesehen.» Eine entsprechende Rechenschaftspflicht wäre aus fachlicher Sicht allerdings ein wesentlicher Bestandteil der Qualitätssicherung, findet er.

Dass die Verantwortung für derartige Fragen der Intervention in Verdachtssituationen von den Bistümern weg auf die nationale Ebene gehörte, sieht er nicht: «Die Leitungspersonen der Bistümer sowie die jeweiligen Arbeitgeber sind für die Personalentscheide und die Umsetzung entsprechender Massnahmen verantwortlich. Das lässt sich nicht weiter auf andere Ebenen delegieren.» Sinnvoll wäre es hingegen, unter den Personen in den Bistümern, die mit diesen Aufgaben betraut seien, einen regelmässigen fachlichen Austausch zu etablieren, um voneinander lernen zu können. Als «dringend notwendig» erachtet er es, sich auf einheitliche nationale Mindeststandards im Meldewesen und in der Fallbearbeitung zu verständigen. Dies war von den Verantwortlichen bereits nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie im Herbst 2023 in Aussicht gestellt worden. Loppacher bestätigt, dass in der nationalen Dienststelle derartige Mindeststandards aktuell erarbeitet werden.

Missbrauchsbetroffene können sich für Beratung und Unterstützung an unabhängige und an kirchliche Anlaufstellen wenden.

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