Schritte der Versöhnung

Vor 500 Jahren wurde die Täuferbewegung in der Schweiz von den etablierten Kirchen unnachgiebig verfolgt. Erst seit kurzem wird sie als Schwesterkirche gewürdigt.

Eine Gruppe der Täuferbewegung auf dem Weg zur Täuferhöhle.
Viele Nachfahren der ersten Täufer besuchen in der Schweiz die Stätten ihrer ebenso reichen wie schmerzhaften Geschichte. Roland Tännler hat bei der Täuferhöhle in Bäretswil den Besuch konservativer Mennoniten und Amischer aus den USA fotografisch festgehalten.

Ich führe meine Studienkollegen aus Richmond, Virginia, durch Zürich. Ich als reformierter Schweizer, sie als Teil der amerikanischen Täufer-Bewegung. Es ist das Jahr 2000, und ich komme in grosse Verlegenheit: was soll ich ihnen zeigen? Es gibt ein Denkmal für Zwingli bei der Wasserkirche, ein Denkmal für seinen Nachfolger Bullinger am Grossmünster und auf der Rückseite das reich bebilderte Portal, welches die Geschichte der Reformation erzählt – aber keine Spur von der Geschichte der Täuferbewegung! Zum ersten Mal betrachte ich Zürich aus täuferischer Perspektive und realisiere: Diese Geschichte hatten wir Reformierten völlig verdrängt. Zürich war die «Zwinglistadt», aber nicht die Stadt von Felix Manz, der als erster Täufer am 5. Januar 1527 durch Ertränken in der Limmat hingerichtet wurde.

Die Nachfahren jener ersten Täuferinnen und Täufer hatten diesen brutalen Beginn ihrer Geschichte von Generation zu Generation weitergegeben. Ich realisierte, dass jährlich zahlreiche Gruppen und Familien nach Zürich an die Wiege ihrer Kirche pilgerten. Waren sie willkommen? Noch 1952 hatte der Stadtrat der mennonitischen Weltkonferenz das Anbringen einer Gedenktafel an der Limmat verweigert. Der radikale Flügel der Reformation Zwinglis wurde von Anfang an grausam verfolgt. Das Übel sollte an der Wurzel ausgerissen werden. Zürich wurde die hartnäckigen Taufgesinnten nach 130 Jahren und Bern nach rund 200 Jahren endgültig los. Die Geschichte schreiben die Sieger! Doch die Bewegung überlebte. Die vertriebenen täuferischen Gläubigen bewahrten ihre Identität und ihre Geschichte. Und heute kommen sie zurück nach Zürich, in die Täuferhöhle im Zürcher Oberland, ins Schloss Trachselwald im Emmental, wo sie heute noch die Gefängniszellen besichtigen, in denen ihre Vorfahren schmachteten.

Mir wurde klar: Es war an der Zeit, ein deutliches Zeichen von reformierter Seite zu setzen. Zwar gab es seit den 80er Jahren einige zaghafte «Schritte der Versöhnung». Aber eine Gedenktafel an der Limmat fehlte immer noch. Das Gedenkjahr für Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, geboren 1504, bot dazu Gelegenheit. Ein Anstoss von mennonitischer Seite führte zur Bildung einer reformiert-mennonitischen Kommission, die sich darum kümmerte. Am 26. Juni 2004 wurde die Gedenktafel eingeweiht im Beisein von täuferischen Gläubigen aus vielen Teilen der Welt. Ein Schuldbekenntnis von reformierter Seite bekräftigte diesen feierlichen Akt: Es anerkennt, dass dieses dunkle Kapitel in der reformierten Kirche lange verdrängt wurde und dass es an der Zeit ist, «die Geschichte der Täuferbewegung als Teil unserer eigenen Geschichte zu akzeptieren, von der täuferischen Tradition zu lernen und im Dialog mit den täuferischen Gemeinden das gemeinsame Zeugnis des Evangeliums zu verstärken». Nicht unbestritten blieb das mutige Bekenntnis, «dass die damalige Verfolgung nach unserer heutigen Überzeugung ein Verrat am Evangelium war und unsere reformierten Väter in diesem Punkt geirrt haben».

Nicht nur Reformierte, auch Katholiken verfolgten die Täufer blutig, im Tirol, in Deutschland und in den Niederlanden. In katholischen Schweizer Kantonen durften sich Täufer – wie die Reformierten – nicht ansiedeln. Nur im Jura konnten sie mit Erlaubnis des Bischofs von Basel in Bergregionen leben, solange sie nicht in den Dörfern missionierten. 500 Jahre nach dem «Zürcher Wurstessen», einem der Trennungsauslöser, setzten alle drei Beteiligten ein Zeichen der Versöhnung: Jürg Bräker, Generalsekretär der Konferenz der Mennoniten Schweiz, der damalige reformierte Kirchenratspräsident Michel Müller und der katholische Generalvikar Luis Varandas feierten am 6. März 2022 gemeinsam einen Gottesdienst im Grossmünster und predigten im Trialog.

Schritte der Versöhnung nach fast 500 Jahren? Macht das Sinn? Der mennonitische Historiker John Sharp, der bis heute immer wieder Reisegruppen aus Nordamerika nach Europa begleitet, schrieb: «Wenn ich jetzt am Westufer der Limmat stehe und die neue Inschrift der Gedenktafel lese, dann weiss ich: Diese Geschichte hat ein neues Ende gefunden. Wir sind berufen, im Kleinen und im Grossen für Gottes Versöhnung zusammenzuarbeiten. Mit dieser gemeinsamen Aufgabe ist uns nun auch Zürich zur Heimat geworden.» Das bedeutet: Mit dieser Gedenktafel und dem Bekenntnis von 2004 ist Zürich nicht mehr nur der Ort einer schmerzhaften Geburt der Täuferbewegung, sondern jetzt auch der Ort der Versöhnung, der einen neuen Blick auf die Geschichte ermöglicht und wo täuferische Gläubige willkommen sind und wissen: Unsere Geschichte ist nicht mehr verdrängt und vergessen. Reformierte sehen uns als Schwesterkirche.

Eine Gruppe der Täuferbewegung auf einem Feldweg.

Jährlich pilgern viele Familien und Gruppen der Täuferbewegung zur Wiege ihrer Kirche.

Was können Katholiken, Reformierte und Täufer voneinander lernen? Das Zürcher Bekenntnis von 2004 ermutigt dazu, «… den radikalen Ansatz der Täuferbewegung, als eine freie Gemeinschaft von entschiedenen Gläubigen Salz der Erde und Licht der Welt zu sein und die Botschaft der Bergpredigt konkret umzusetzen», zu achten. Wenn das Motto des Jubiläums «500 Jahre Täuferbewegung» lautet: «Mut zur Liebe», dann ist eben damit jener Mut gemeint, der sich vorbehaltlos für den Frieden einsetzt und sich nicht scheut, auch dem Feind die Hand zu reichen. Die etablierten Kirchen haben die radikale Botschaft der Bergpredigt immer wieder relativiert und sich bis heute von nationalen Machtinteressen vereinnahmen lassen. Wo bleibt die Stimme der Kirchen gegen die rasant um sich greifende Aufrüstung? – Ein weiteres Erbe der Täufertradition ist das Bemühen um eine christliche Gemeinschaft. In der Nachfolge von Jesus nehmen sie sein Versprechen ernst: dass er mitten unter denen gegenwärtig ist, die sich in seinem Namen versammeln.

Was können umgekehrt die täuferischen Gläubigen von der reformierten Tradition lernen? Larry Miller, damaliger Generalsekretär der Mennonitischen Weltkonferenz, sagte am 26. Juni 2004 im Grossmünster: «Aufgewachsen in einer mennonitischen Kirche … lernte ich früh zu bekennen: ‹Jesus ist der Herr›. Doch die tiefe Überzeugung, dass Jesus der Herr der Geschichte und der Schöpfung ist, verdanke ich reformierten Christen.» Jesus als Herr der Geschichte zu verstehen, impliziert, dass Christinnen und Christen gerufen sind, sich auch in Politik und Gesellschaft einzubringen. Aufgrund der jahrhundertelangen Verfolgung hielten sich die Täufer lange von Politik und Gesellschaft fern. Heute sind sie nicht nur stark in der Friedens- und Versöhnungsarbeit, sondern manche auch politisch aktiv.

In den 20 Jahren meines Engagements für die Versöhnung zwischen Taufgesinnten und Reformierten wurde mir klar: Jede Kirche und kirchliche Gemeinschaft hat ein Charisma, das Gott ihr anvertraut hat. Wenn wir es nicht eifersüchtig für uns hüten, sondern einander gegenseitig daran Anteil geben, werden wir bereichert und füreinander und für die Menschen zum Segen.

Peter Dettwiler (*1950) war 17 Jahre Gemeindepfarrer. Von 1993 bis 2015 war er Beauftragter für Ökumene, Mission und Entwicklung der Ev.-ref. Landeskirche Zürich.


Stichworte zur Täuferbewegung

Beginn
1525: Georg Cajacob, genannt «Blaurock», lässt sich als Erwachsener in Zürich taufen und markiert so den Beginn der Täuferbewegung. Die reformierte Zürcher Staatskirche sieht in den Täufern eine Bedrohung und verbietet ihre Zusammenkünfte. Im Januar 1527 wird der Prediger Felix Manz in der Limmat ertränkt. Viele Täufer verlassen daraufhin Zürich. 

Fluchtwege
Dort, wo sich die geflohenen Täufer niederlassen, entstehen neue Täufergemeinden. Zuerst in Süddeutschland, den Niederlanden, dann über Polen bis Sibirien und Amerika. Bald nennen sie sich Mennoniten, nach einem ihrer frühen Pastoren Menno Simons. Rund um Jakob Hutter bilden sich die Hutterer, rund um Jakob Ammann die Alttäufer, die später in Amerika als Amische bekannt werden.

Glaube
Täuferinnen und Täufer gelten als radikaler oder linker Flügel der Reformation. Sie wollten konsequent Jesus und der Bibel nachleben. So verweigerten sie Kindertaufe, Kriegsdienst und das Schwören eines Eides, organisierten ihre Gemeinden unabhängig vom Staat und lehnten jede Form von Hierarchie ab.

Verfolgung
Die Taufregister, die bei der Kindertaufe erstellt wurden, waren damals die einzige Möglichkeit, alle Bürgerinnen und Bürger zu erfassen. Die Armee war überlebenswichtig, Eide sicherten im Handel Loyalität. Deshalb wurden die Täufer als Angriff auf die bürgerliche Ordnung gesehen, brutal verfolgt und gewaltsam aus der Schweiz vertrieben.

Vorreiter
Das Prinzip der Gewaltlosigkeit hat Taufgesinnte zu Spezialistinnen und Spezialisten in der Friedensarbeit gemacht. Mit ihrem Wunsch nach Schutz für areligiöse Minderheiten, der Forderung nach Trennung von Kirche und Staat und der Glaubensfreiheit kann man sie als Vorreiter moderner Werte sehen.

Heute
In der Schweiz gibt es 13 Mennoniten-Gemeinden mit insgesamt 2100 getauften Mitgliedern. Sie sind in der Konferenz der Mennoniten der Schweiz zusammengeschlossen. Weltweit gibt es 1,5 Millionen Mennoniten in 75 Ländern. Daneben gibt es Alttäufer, Amische und viele weitere Gemeinschaften, die auf die Täufer zurückgehen.

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