Hansuli Gerber, Sie haben sich Ihr Leben lang mit Friedensarbeit beschäftigt. Wie geht es Ihnen mit dem aktuellen Wiederaufflammen von Diktaturen, Gewalt und Krieg?
Es belastet mich, und es beschäftigt mich, was es mit den Menschen um mich macht. Wie können wir der Realität in die Augen schauen, ohne zu verzweifeln oder uns total zurückzuziehen? Mir persönlich helfen die Natur, Stille, Musik: ich nehme mir bewusst Zeit für die Schönheit. Ich suche das Gespräch mit Menschen, die anders denken, und trage Sorge zu den Menschen um mich. Ich schaue nicht alle Nachrichten, aber informiere mich gezielt aus unterschiedlichen Quellen, denen ich vertraue.
Vor 80 Jahren wurde der Zweiten Weltkrieg beendet,es folgten Abrüstung und Schritte zur Friedenssicherung. Doch jetzt sind wir gefühlt wieder so weit wie vor dem Zweiten Weltkrieg.
Leider ist das so. Uns Europäern erscheint dies jetzt schlimm, doch viele Menschen anderswo erleben Bedrohung und Not schon länger. Wir sehen uns heute nicht nur einer Bedrohung durch einen grossflächigen Krieg gegenüber, sondern in vielen Ländern auch einer erneuten Bedrohung durch den wiederaufflammenden Faschismus, der durch eine nationalistische und antiliberale Ideologie geprägt wird. Faschismus bringt immer auch Krieg … Mir macht ausserdem aktuell die verbreitete Behauptung Angst, dass jetzt eine grosse europäische Aufrüstung absolut nötig ist. Die weltweite Rüstungsindustrie ist riesig, und niemand hat die Verflechtungen zwischen Staaten und dieser Industrie richtig im Griff, sie werden auch nicht offengelegt. Waffen, die produziert werden, wollen früher oder später eingesetzt werden.
Leider zeigt die Erfahrung, dass es militärischen Widerstand braucht, sonst gäbe es die Ukraine bereits nicht mehr.
Ich würde niemals dem ukrainischen Volk sagen, dass sie sich nicht verteidigen sollen. Was ich befürchte, ist jedoch die einseitig militärische Sicherheit, die nun gesucht wird. Der Schutz besteht von mir aus gesehen nicht vorwiegend in militärischen Mitteln, sondern wirtschaftlich, politisch, kulturell und sozial. Und in der Aufarbeitung von tiefer liegenden Konflikten. Und was ist mit der Klimabedrohung, die ausgeblendet wird? Die Aufrüstung frisst das Geld für diese anderen, wichtigen Anliegen der Friedenssicherung.
Das funktioniert nur, solang nicht eine Seite militärisch angreift.
Die Frage ist: lässt sich ein machtgieriger Kriegsgegner mit Waffen stoppen? Es kann vordergründig gelingen, aber der Konflikt bleibt ungelöst und schwelt in anderer Form weiter. Gewaltsame Machtablösungen führen oft vom Regen in die Traufe oder in eine vorübergehend mildere Form von Ausbeutung. Eine wissenschaftliche Untersuchung von 2011 hat ergeben: Gewaltfreie Kampagnen sind fast doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Kämpfe. Im Falle des aktuellen Angriffskrieges geht es aber wie gesagt nicht darum, sich ohne Widerstand einnehmen zu lassen. Man darf einfach nicht aus den Augen verlieren, welche Spirale der Gewalt Krieg und Aufrüstung auslösen. Man muss immer wieder auch andere Wege zum Frieden suchen.
Welches sind andere Wege, die aus Konflikt und Krieg führen?
Zuerst müssen wir klar unterscheiden zwischen Konflikt und Krieg. Krieg ist und bleibt immer zerstörerisch. Konflikte hingegen sind notwendig und unumgänglich. Sie haben zwar ein gefährliches Potential, aber eigentlich bringen sie uns als Einzelne und als Gemeinwesen weiter: Sie weisen hin auf Missstände und fordern notwendige Veränderungen. Gewalt ist nicht eine Folge des Konfliktes, sondern das Gegenteil davon. Sobald man Gewalt einsetzt, ist man raus aus der Konfliktarbeit.
Und wie sieht Konfliktarbeit aus?
Aus der täuferischen Friedenstheologie heraus hat sich der Ansatz der Konflikttransformation entwickelt, den der mennonitische Soziologe John Paul Lederach ausformuliert hat. Ein Konflikt hat das Potential einer nötigen, überfälligen Veränderung in sich. Je später diese Veränderung passiert, umso schwieriger ist es, diese gewaltfrei zu gestalten. Konflikttransformation schaut also nicht
in erster Linie zurück, wie der Konflikt entstanden ist, sondern in die Zukunft: wohin wollen wir gelangen? Was muss sich verändern, damit es allen involvierten Parteien besser geht? Dieser Ansatz erfordert grosse Vorstellungskraft, um sich die Veränderung, die ja noch nicht da ist, vorstellen zu können.
Das tönt theoretisch gut, aber ist das umsetzbar?
Als in Kroatien, Bosnien und Serbien Anfang der 90er Jahre durch kriegerische Handlungen Menschen aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens einen sicheren Zufluchtsort suchten, hatte das Mennonite Central Committee (MCC) in diesen Regionen langjährige Kontakte. Es galt nun, die Menschen, die einander vertrauten, in der plötzlich anfallenden Flüchtlingsarbeit zu unterstützen und sie gleichzeitig zu ermutigen, ihre Beziehungen über die kriegerischen Grenzen hinweg aufrechtzuerhalten und so ein anderes Narrativ zu pflegen als das, welches durch die Propaganda geschürt wurde. Kirchen, welche sich vorher distanziert und skeptisch gegenüberstanden, arbeiteten nun zusammen, um den Flüchtlingsströmen gerecht zu werden. Der Krieg wurde damit nicht gestoppt, doch vielen Menschen wurde geholfen. Manche liessen sich dadurch nicht zum Hass verleiten und schafften es, angesichts der Propaganda standzuhalten.
Man kann also keine Friedensstifter einfach einfliegen …
Vermittelnde von aussen können helfen, aber letztlich in einem bewaffneten Konflikt nicht viel ausrichten. Es braucht Strategien, um Schritte zu einem gerechten Frieden mit den Menschen vor Ort zu entwickeln. Solche Peacemaker-Projekte wurden von Mennoniten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelt. Es geht darum, persönliche und kollektive Beziehungen vor Ort zu pflegen, um Vertrauen aufzubauen und nach den Voraussetzungen für die Überwindung von destruktiven Mustern und gemeinsamen Wegen in die Zukunft zu fragen. Eine internationale Präsenz in Krisengebieten hat sich aber auch bewährt, um Übergriffe einzudämmen.
Menschen, die sich dem täuferischen Glaubenserbe verbunden fühlen, lehnen Militärdienst ab. Ist es nicht ein wenig billig, die eigene Seele rein zu halten, während andere die Verteidigungsarbeit leisten müssen?
Die Seele rein halten kann man so oder so nicht. Wenn ich mein Handy benutze, bin ich schon ein Komplize von ausbeuterischen Praktiken, um die nötigen seltenen Erden zu gewinnen. Wir können unsere Seele verlieren, im Rausch nach Konsum, Macht oder Geld. Aber retten können wir die Seele sowieso nicht selber. Wir sind angenommen und geliebt als Kinder Gottes und versuchen, das Beste daraus zu machen, so wie wir es verstehen.
Dann kann man aus Sicht der Täufergemeinschaft auch Militärdienst leisten?
Die Täufergemeinden empfehlen den Zivildienst, aber es ist jeder Person überlassen, nach ihrem Gewissen zu handeln. Taufgesinnte, die den Militärdienst für sich persönlich ablehnen, möchten damit daran erinnern, dass Jesus selbst keine Waffe benutzt und sein Leben nicht mit Gewalt zu retten versucht hat. Das heisst aber nicht, dass er alles hingenommen hätte: er konnte durchaus Aggression zeigen, wo Unrecht, Betrug und Lüge offensichtlich waren, wie bei der Tempelreinigung. Die Täufergemeinden möchten aufzeigen, dass Gewalt das Problem ist, das sich als Lösung ausgibt. Die einzige nachhaltige Antwort auf Gewalt ist die Gewaltlosigkeit, die Jesus vorgelebt hat.
Ein Staat muss sich gegen Angreifer wehren können, und er braucht eine Ordnung, die durchgesetzt werden muss … das geht nicht immer gewaltlos.
Unsere pazifistische Tradition ist aus den Erfahrungen der ersten Täufer entstanden, die den damaligen Staat als ungerecht und gewalttätig erlebten, vor allem gegenüber den Besitzlosen und Armen. In friedenskirchlicher Sicht ist es nicht die Aufgabe der Kirche, den Staat zu retten. Einige Täufer wollten um 1530 den Staat mit einem Gottesstaat ablösen, doch das endete katastrophal. Die Auffassung innerhalb unserer täuferischen Gemeinschaft, dass Christen kein politisches Amt annehmen, hat sich dann noch lange gehalten, wird heute noch von Amischen und konservativen
Mennoniten vertreten. Der Staat ist immer in Versuchung, der Verbindung von Reichtum und Macht stattzugeben auf Kosten der Minderbemittelten. Das war im 16. Jahrhundert der Auslöser des Bauernkriegs. Wir sehen das jetzt gerade in den USA. In der Schweiz haben wir das Glück, dass die Gewaltentrennung intakt ist und der soziale Rechtsstaat relativ gut funktioniert. Im Kanton Bern hatten in den vergangenen Jahren je eine Mennonitin und ein Mennonit das Präsidium des Grossrats inne. Es geht nicht um schwarz oder weiss, sondern um das Abwägen, in welcher Situation wir auf welche Weise Jesus nachfolgen können.
Wir stehen weltpolitisch in einer schwierigen Situation. Gibt es Auswege?
Uns ist es lange sehr gut gegangen. Nun gelangen wir in vielen Bereichen an eine Grenze, wo die Situation in Gewalt kippen kann. Gewaltloser ziviler Widerstand ist da nötig, wo Unrecht und Gewalt um sich greifen. Das geht nicht von selbst, und eine Person allein kann das nicht leisten. Es braucht Menschen mit Mut und Risikobereitschaft, die vorangehen – und es braucht Demut und enorm viel Selbstdisziplin. Man kann das lernen! Es geht darum, Gerechtigkeit und Frieden zu verbinden.
500 Jahre Täuferbewegung
—Jubiläumsanlass:
Mut zur Liebe: 500 Jahre Täuferbewegung
29. Mai, 10.30 bis 16.00 Uhr, rund ums Grossmünster, Zürich.
Workshops, Konzerte, Ausstellungen, Podiumsdiskussion, Stadtrundgang.
Alle sind eingeladen. Keine Anmeldung. Kostenlos.
17.00 Uhr, Grossmünster Zürich: ökumenischer Abschlussgottesdienst
www.anabaptism500.ch/program-schedule
—Ausstellung:
Verfolgt, vertrieben, vergessen
Die bewegte Geschichte des Täufertums im Kanton Zürich, mit Rahmenprogramm.
Zentralbibliothek Zürich, Predigerplatz 33.
Montag bis Freitag, 13–18 Uhr, Samstag, 13–16 Uhr, bis 14. Juni.
www.zb.uzh.ch
—Film:
Kinder des Friedens
Die Geschichte der Familie Gerber im Jura zeigt ein Stück Täufergeschichte. Das hohe Friedensideal wird immer wieder auch zum Prüfstein für die Täufer selbst.
www.schwarzfalter.com/kinder-des-friedens
—Weitere Veranstaltungen zum Täuferjubiläum
Im Kanton Zürich, Mai bis September:
Referate, Exkursionen, Ausstellung, Konzert
www.anabaptism500.ch