Seele baumeln lassen

In den Ferien sagen wir vielleicht: Lass es dir gut gehen oder: Lass die Seele baumeln. In Zeiten der Ruhe haben wir auch einmal die Zeit, über Grundlegendes nachzudenken: Was ist die Seele eines Menschen? Ein Organ, Teil einer Hirnregion? Das Gemüt? Oder das, was das Wesen des Menschen ausmacht?

Lass die Seele baumeln: Wie erkläre ich es dem Kind, wenn es nach der Seele fragt? Natürlich kann ich sagen, dass die Seele im traditionell-christlichen Verständnis das Eigentliche des Menschen ist, das, was den Tod überdauert. Aber das greift mir zu kurz. Weil es den Menschen wieder in Leib und Seele teilt.

Und das lässt sich mit dem biblischen Menschenbild nicht in Einklang bringen. Das biblische Menschenbild sieht Leib und Seele als untrennbare Einheit.

Fragen drängen sich auf: Ist die Seele deshalb eher dasselbe wie das Herz, nur eben kein Organ? Oder eine Hirnregion, die reagiert, meine Empfindungen steuert. Durch die ich zutiefst weiss, was mir fehlt, der Ort an dem meine Sehnsucht zu Hause ist?

Ist die Seele der Resonanzraum in mir, mit dem ich auf alles reagiere, das mich berührt, ein Raum, der sich aufmacht oder verschliesst?

Ich weiss es nicht. Und ich glaub auch nicht, dass es eine letztgültige Definition von Seele geben kann. Vielleicht hat mich gerade deswegen ein Text der Heiligen Hildegard von Bingen sehr angeregt, weiter darüber nachzudenken. Sie schreibt vor beinah 900 Jahren:

Die Seele

ist wie ein Wind,

der über die Kräuter weht,

und wie der Tau,

der auf die Wiesen träufelt,

und wie die Regenluft,

die wachsen macht.

Genauso ströme der Mensch

ein Wohlwollen aus

auf alle, die da Sehnsucht tragen.

Ein Wind sei er, der den Elenden hilft,

ein Tau, indem er die Verlassenen tröstet,

und Regenluft, indem er die Ermatteten aufrichtet

und sie mit Liebe erfüllt

wie Hungernde, indem er ihnen

seine Seele hingibt.

Wenn ich diesen Text nachklingen lasse, dann ahne ich, dass die Seele eher leise Töne kennt und anstimmt. Dass sie ein DU sucht. Dass sie uns ermöglicht behutsam aufeinander zuzugehen, zu erahnen, wer der andere ist, wer ich selber bin. Der grosse deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe hat es so formuliert: „Glücklich allein ist die Seele, die liebt.“ Eine Seele, die es sich erlauben kann, nicht nur in der Ferienzeit, sondern noch mehr in Zeiten von Stress, Arbeit und Schule, die Stille zu suchen und aufzusuchen, um ihr nachzuspüren und etwas zu entwickeln, was Frieden bringt: 

Ein Gespür, für das, was mein Wesen ausmacht und was ich vom Wesen des anderen erahne. Und mir wird einmal mehr bewusst, was für ein grosses Geschenk es ist, wenn sich zwei Seelen berühren, wenn eine Begegnung stattfindet, die eine besondere Qualität hat, die tiefere Schichten erreicht, etwas zum Schwingen bringt.

Von manchen Menschen sagt man: „Sie ist die Seele des Hauses oder er ist eine gute Seele…“ Manchmal werden sie gar belächelt, weil sie so hilfsbereit und scheinbar selbstlos sind.

Ich glaube eher, dass es Menschen sind, die so ganz sie selber sind, ein Gespür dafür haben, was dran ist. Sie finden Erfüllung darin, mit Hingabe zu leben.

 

Eine gute Ferienzeit wünscht herzlich

Jürgen Kaesler

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