Zwei Dinge lassen sich mit Bestimmtheit sagen: Die Wahl von Robert Francis Prevost hat überrascht. Und: Er wird die Kirche weiterführen. Dafür bringt er wesentliche Charakterzüge und Prägungen mit, dazu scheint er gewillt zu sein. Alles Weitere ist im Grunde Spekulation. Und Spekulationen, das sei an den Anfang gestellt, sind heikel – schüren sie doch mitunter Hoffnungen, die in der Kirche der letzten Jahrzehnte immer und immer wieder auch enttäuscht wurden. Papst Leo wird, vielleicht lässt sich dies als Drittes mit Bestimmtheit sagen, enttäuschen: womöglich gerade in jenen Fragen, die in unseren Breiten drängen, wie der Gleichberechtigung von Frauen und von queeren Personen. Dass diese Enttäuschungen eintreten, ist allerdings wiederum Spekulation.
Bestimmt lohnt sich das, was nun vielerorts getan wird: ein Blick in seine Lebensgeschichte. Da fällt schnell auf, dass Robert Prevost aus einer migrantischen Familie stammt, dass er in den USA geboren und aufgewachsen ist, dass er als Erwachsener und Priester viele Jahre in einfachen Verhältnissen gelebt und mit jenen Menschen das Leben geteilt hat, deren Reichtum nicht der materielle Wohlstand ist. Mit Blick auf die politische Lage in den USA und die weltpolitische Verschiebung der Kräfte könnte einer wie er gerade jetzt Gegenkräfte freisetzen und stärken. Einer wie er als Papst, als moralische Autorität mit globaler Reichweite, könnte sich als ernstzunehmendes Gewicht im Kräftespiel erweisen. Denn nicht zu unterschätzen ist, dass der Papst als Monarch des kleinsten Staates der Welt zwar nicht über Armeen, doch aber über ein altes, etabliertes und intaktes Netzwerk politischer Einflussnahme verfügt und dieses bespielen kann. Dass sein Wort Gewicht haben kann und Machthaber des (ultra-)konservativen Spektrums wenig Interesse daran haben dürften, die Figur des Papstes allzu schnell und allzu explizit zum Gegner zu haben. Dass Papst Leos Anwaltschaft klar den Armen, den Entrechteten, den Migrantinnen und Migranten gehört, scheint sehr wahrscheinlich zu sein. Mit der Wahl seines Papstnamens Leo hat er sich in die Tradition jenes Papstes gestellt, der 1891 die erste Sozialenzyklika geschrieben hat, der «Arbeiterpapst» genannt wurde. Robert Prevost hat sich darüber hinaus mehrfach positioniert und gehört zu den wenigen US-Amerikanern mit öffentlicher Reichweite, die der aktuellen Trump-Administration wiederholt widersprochen haben, wie Posts aus sozialen Medien belegen.

Papst Leo XIV. kurz nach seiner Wahl.
Keystone/Massimo Percossi
Jene, die angeben, Robert Prevost zu kennen, sprechen ihm vor allem zwei Eigenschaften zu: Er könne zuhören und er habe Leadership-Qualitäten. «Zuhören» gehört zu jenen Eigenschaften, die Kirchenmännern eher schnell und mitunter auch leichtfertig zugeschrieben werden – bei Prevost könnte es dem ersten Eindruck nach durchaus bedeutsam sein. Zumindest wäre die Gabe zu hören und zu verstehen wesentlicher Teil einer Leitungsqualität, die dem Papst zu wünschen ist. Es scheint unausweichlich, dass er zumindest jene Fragen tatsächlich angehen muss, die im Vatikan realpolitisch drängend sind: dazu gehört wahrscheinlich allen voran eine finanzielle Schieflage, die offenbar so weit reicht, dass Gehälter von Angestellten nicht mehr bezahlt werden können; die Weiterführung der Kurienreform, also einer Reform des Stabs der Vatikanstadt und des Zentrums der Weltkirche, wird ebenfalls häufig als drängend erwähnt. Damit würde er Papst Franziskus’ Erbe weiterführen, mit dem er sich bei seiner Antrittsrede verbunden hat; gleichzeitig erhoffen sich Kirchenmänner dem Vernehmen nach, Prevost würde seine Entscheide weniger im Alleingang und abgestimmter mit den Verantwortlichen der Kurie treffen, als dies bei Franziskus der Fall gewesen war.
Sein Wort könnte Gewicht haben.
Als Anwalt der Menschen am Rand.
Als Mahner für unbewaffneten Frieden.
Papst Leo XIII. als Namens-Vorgänger des neuen Leo-Papstes wird beschrieben als einer, der vor den Herausforderungen seiner Gegenwart nicht die Augen verschloss, sondern im Gegenteil versuchte, Antworten zu finden – und zwar ohne sich dabei gängigen politischen Antworten anzubiedern. In der erwähnten Sozialenzyklika «Rerum novarum» – «Von neuen Dingen» entwirft er eine Gesellschaftsordnung jenseits des Kapitalismus, aber auch jenseits des Kommunismus. Ein spannender Versuch, der weiterentwickelt in der katholischen Soziallehre bis heute wirksam ist. Papst Leo XIV. ist zuzutrauen – nicht zuletzt dank seiner naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Studien – erwägenswerte Antworten zu formulieren zu jenen Fragen, die uns aktuell umtreiben und bedrohen. Er selbst hat wiederholt Künstliche Intelligenz erwähnt, in den ersten Tagen seines Pontifikats hat er bereits Meinungs- und Medienfreiheit thematisiert; und seine allerersten Worte als frisch gewählter Papst auf der Loggia am Petersplatz galten dem Frieden, dem Frieden des Auferstandenen, den er als «unbewaffneten und entwaffnenden Frieden» beschreibt.

Am 12. Mai 2025 stellt sich der neue Papst ein erstes Mal den Medien. Robert Prevost war einmal.
Imago / Maria Grazia Picciarella
Diplomatisch und hilfreich für seine Karriere an die Spitze der kirchlichen Hierarchie ist mit Sicherheit, dass sich Robert Prevost zu «heissen Eisen» der Kirchenentwicklung kaum geäussert hat. Rätselhaft bleibt seine Aussage an der Weltsynode 2024 zur Frauenweihe: die «Klerikalisierung von Frauen» würde die Probleme nicht lösen und schaffe möglicherweise neue. Begründet hat er diese Behauptung offenbar nicht. Seine wenigen Aussagen, die Geschlechtergerechtigkeit betreffen, lassen befürchten, dass diese Themen weiterhin kaum Priorität in der Agenda des Papstes geniessen werden. Hoffnungsvoll stimmen kann im Blick auf Reformanliegen hingegen zweierlei: Prevost sprach sich für eine Stärkung der Autorität nationaler Bischofskonferenzen aus. Anlass war die grosse Diskussion, die eine Deklaration der Glaubenskongregation 2023 ausgelöst hatte zur Segnung von nicht kirchlich verheirateten und homosexuellen Paaren. Eine solche Stärkung könnte auch Schweizer Bischöfen ermöglichen, Entscheidungsspielräume für regionale Lösungen selbstbewusster zu nützen. Zweitens lässt die Tatsache hoffen, dass sich Leo XIV. im Kirchenrecht spezialisiert hat: bereits gesetzte oder neu getätigte Reformschritte könnten den Weg ins Kirchenrecht finden – eine Voraussetzung, dass sie dauerhafter von Bestand sind.
Seit Anfang 2023 als Präfekt für die Bischöfe überwachte Robert Prevost offenbar die Durchsetzung der Richtlinien zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs in den Bistümern. Dies legt vertiefte Einblicke in dieses bedeutsame Thema nahe. Vertuschungsvorwürfe, die gegen ihn als Bischof erhoben wurden, scheinen sich entkräften zu lassen und auf den Versuch einer ultrakonservativen katholischen Gruppierung zurückzugehen, Prevost in Verruf zu bringen.
Schön zu sehen, mit welcher Leichtigkeit der neue Papst kurz nach seiner Wahl vor Journalistinnen und Journalisten trat, gelöst, als sei er in dem angekommen, was er ist. Man empfing ihn mit Applaus; er dazu: «Man sagt, dass es keine grosse Rolle spielt, wenn man am Anfang klatscht. Wenn Sie am Ende noch wach sind und applaudieren möchten, dann vielen Dank.» Mal sehen, wie sich die Welt während und dank seines Pontifikats entwickeln wird. Potential, zunächst für Zwischenapplaus, bringt der neue Papst jedenfalls mit.
Robert Francis Prevost / Leo XIV.
1955 Geburt in Chicago, USA, in eine Familie mit französischen, italienischen, spanischen und kreolischen Wurzeln
bis 1977 Studium der Mathematik und Philosophie, Eintritt in den Augustiner-orden
ab 1982 Studium der Theologie in Chicago, dann Studium des Kirchenrechts in Rom
1985 bis 1987 Missionar in Peru
bis 1998 regionale Leitungsaufgaben in Peru, später Provinzoberer des Ordens in Chicago
2001 bis 2013 Generalprior des Augustinerordens in Rom
2014 Bischofsweihe und Apostolischer Administrator von Chiclayo in Peru
2015 Peruanische Staatsbürgerschaft
ab 2019 Mitglied der Kongregation für den Klerus
ab 2020 Mitglied der Kongregation für die Bischöfe
ab 2023 Leiter des Dikasteriums für die Bischöfe
2025 Ernennung zum Kardinal
8. Mai 2025 Wahl zum 267. Bischof von Rom, Papst Leo XIV.