Theologische Köpfe

Von der Mutter gelernt

Juliana von Norwich gilt als Schutzpatronin der Katzenhalter. Bemerkenswert ist ihre Theologie vom mütterlichen Jesus Christus.

Das älteste erhaltene Buch in englischer Sprache, das von einer Frau verfasst worden ist, stammt aus der Feder einer weitgehend unbekannten Engländerin aus dem 14. Jahrhundert.  Alles, was wir von ihr wissen, hängt damit zusammen, wie dieses Buches entstanden ist: Im Alter von 30 Jahren, im Mai 1373, lag Juliana im Sterben. Während ihre Mutter bei ihr war und sich um sie kümmerte, erhielt sie von einem Priester die Sterbesakramente. Weil die Schwerkranke ihre Augen nur noch gen Himmel richtete, forderte er sie auf, das Kreuz anzuschauen, das er mitgebracht hatte. Kurze Zeit später hat die junge Frau innerhalb eines Tages sechzehn Visionen. Sie handeln von der Liebe Gottes. Für Juliana wird darin verständlich, warum Jesus Christus aus Liebe zu den Menschen selbst Mensch wurde und bis zum Tod gelitten hat. Während dieser Visionen fühlte sie sich genesen, doch verschlechterte sich ihr Zustand wieder. Schliesslich erholte sie sich, schrieb ihre «Offenbarungen von der Liebe Gottes» nieder und versuchte sie theologisch zu deuten. Möglicherweise diente ihr Buch als Bewerbungsschreiben an die kirchlichen Oberen, um ein geistliches Leben führen zu können: Wenig später bezog sie nämlich eine Klause, die an einer Kirche angebaut war, mitten in Norwich, der damals zweitgrössten Stadt Englands. Dass die junge Engländerin sich Juliana nannte, ist wohl eine Referenz an Julianus, einen der Kirchenpatrone ihrer neuen Bleibe.

Wegen ihrer Visionen in schwerer Krankheit, ihrer Schrift und ihres Lebens als Klausnerin stand Juliana bald im Ruf einer Geistlichen und Mystikerin.

Wie lässt sich Gott beschreiben? Theologen und Theologinnen bemühen sich, Antworten darauf zu finden, sei es durch die christliche Philosophie, logisches Denken oder gewagte Spekulationen. Die Ergebnisse prägen die Predigten und Katechesen. Aber viele Gläubige haben oftmals andere Vorstellungen von Gott, denn persönliche Gottesbilder hängen von den Erfahrungen ab, die Menschen machen und davon, wie sie diese mit Gottes Wirken verbinden. Die Mystiker – und seit dem ausgehenden Hochmittelalter auch viele Mystikerinnen – bemühen sich um die Verbindung von beidem: von ihren persönlichen Gotteserfahrungen und dem, was die Kirche lehrt. Manchmal besinnen sie sich dazu auf vergessene kirchliche Tradi­tionen, und bisweilen setzen sie auch neue theologische Akzente.

«Christus ist unsere
barmherzige Mutter.»
Juliana von Norwich (1342 – nach 1413)

Obwohl Juliana ihre Schrift abgeschlossen hatte, tat sie sich schwer damit, ihre Visionen im Rahmen der gängigen Theologie zu deuten. Fast zwanzig Jahre kreisten ihre Meditationen um drei zentrale Fragen: Was lässt sich über den dreifaltigen Gott sagen? Warum gibt es Sünde, und wie kommen wir davon los? Wozu musste Jesus am Kreuz leiden und sterben, wenn Gott ihn doch liebte? Antworten fand sie erst, als sie verstand, wie Liebe und Leiden zusammenhängen. Sie drückt dieses Verhältnis mit einem Bild aus, zu dem sie das Alte Testament und ihre eigene Mutter inspiriert haben: Der dreifaltige Gott ist nicht nur Vater, sondern auch Mutter, denn als Schöpfer gebiert er alles Leben und alle Dinge. Christus hat die Aufgabe, die Mutter der Menschen zu sein. Dieses Bild von der Mutterschaft Christi bildet jetzt das Herzstück ihrer gereiften The­ologie. Jesus, der Mensch gewordene Gott, erleidet die schmerzvolle Passion, um die Menschen zur «geistlichen Geburt» in ein neues Leben zu erlösen – genauso wie unsere leibliche Mutter, die Geburtsschmerzen erlitten und ertragen hat, um uns in diese Welt zu gebären. Die Mutter leidet mit, wenn ihr Kind krank ist, und opfert sich für ihr Kind auf – Jesus teile das Leid der Menschen und werde zur barmherzigen Mutter. Die Mutter stillt ihr Kind – Jesus nähre die Menschen mit seinem eigenen Leib, der Eucharistie. Die Mutter massregelt ihr Kind – auch Christus rufe auf den rechten Weg zurück. Aber anders als leibliche Mütter, die «nur» ein Leben schenken können, das mit dem leiblichen Tod endet, sei Jesus die wahre Mutter, die ewiges Leben und Erlösung von allem irdischen Leiden schenke.

Das Bild von Christus als Mutter ist keine moderne feministische Theologie. Es ging Juliana nicht um ein Gegengewicht zum vorherrschenden männlich geprägten Gottesbild, sie wollte vielmehr ihre Gotteserfahrung beschreiben. Dazu griff sie zurück auf ihre Erfahrung von mütterlicher Liebe. Auf diese Weise kann sie lebensnah erklären, warum Gott Mensch geworden ist und was für sie Erlösung und Liebe Gottes bedeuten: «Gott will, dass wir wissen, dass er uns in Wohl und Weh immer gleich behütet und immer gleich liebt.» Aber wie eine Mutter ihr Kind nicht vor allem zu schützen versuche, lasse Gott zu, dass der Mensch eigene Erfahrungen macht, auch leidvolle. Gott sei immer nah, dessen ist sich Juliana nun sicher, aber «manchmal nützt es einer Seele, wenn der Mensch sich allein überlassen bleibt».

Maria habe für Jesus Liebe und unter dem Kreuz Mitleid gezeigt; sie sei damit ein Vorbild für eine menschliche, eine mütterliche Haltung. Doch der mütterliche Christus vermag mehr: Er bewirke Erlösung und dadurch die Verwandlung des Lebens. Diese Theologie macht Julianas Schrift seit Jahrhunderten zu einem Trostbuch im eigenen Leid.