Acharya Vidyabhaskar (*1984) ist Sanskrit-Gelehrter aus der nichtdualen Tradition Indiens, Religionswissenschaftler und Theologe.
Tripura Devi
Vor dem Petersdom mischen sich Weihrauch und Herbstluft. Reporter drängen sich zwischen Rabbinern, Hindu-Gelehrten, Imamen, Mönchen und Kardinälen. Sechzig Jahre nach «Nostra Aetate», der bahnbrechenden Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils, kehrt die Welt zurück an den Ort, an dem die Kirche lernte, das Fremde nicht zu fürchten.
Doch der Himmel über Rom ist schwer. Antisemitische Übergriffe, islamfeindliche Parolen: sie hängen über dem Jubiläum wie ein stiller Sturm. «Es fühlt sich an, als stünde ‹Nostra Aetate› heute wieder auf dem Prüfstand», murmelt ein Theologe. In den Korridoren des Vatikans brodelt es. Die Wunden der Weltpolitik sind frisch, die Fronten verhärtet.
Am Abend füllt sich die Paul-VI-Halle mit Gesängen junger Menschen aus fünf Kontinenten. Hebräisch, Sanskrit, Latein: Stimmen, die sich verweben wie Gebete einer einzigen Menschheit. Die erste Religion, die die Künstler ehren, ist der Hinduismus: die älteste lebende Religion der Welt. Mit erhobenen Armen tanzen sie ein leuchtendes «Om» in die Luft, als wollten sie den Klang der Schöpfung selbst in Schwingung versetzen. Später tritt Papst Leo XIV. vor die Delegierten. Keine Inszenierung, kein Zepterglanz – nur die stille Würde eines demütigen Mannes. «Dialog ist keine Taktik und kein Werkzeug», sagt er. «Er ist eine Lebensweise, ein Weg des Herzens, der alle verwandelt, die daran teilhaben.» Seine Worte sinken wie Tropfen auf dürstende Erde.
«Vor sechzig Jahren wurde ein Same der Hoffnung gepflanzt. Heute zeigt Ihre Anwesenheit, dass daraus ein mächtiger Baum geworden ist», sagt der Papst. «‹Nostra Aetate› erinnert uns daran, was uns eint: Wir gehören zu einer einzigen menschlichen Familie – eins im Ursprung, eins im Ziel.» Die sechzig Religionsvertreterinnen und -vertreter erheben sich. Der Papst steigt die Stufen hinab, geht durch die Reihen und reicht jedem von uns die Hand. Keine Eskorte, kein Protokoll – nur sein sanfter Blick. Ich neige den Kopf und sage: «Möge die Grosse Vollkommenheit mit Ihnen sein.» Er lächelt überrascht. «Dankeschön», antwortet er leise.
Ich übergebe einem Kardinal einen Stein vom heiligen Berg Kailash – für Milliarden Gläubige der Nabel der Welt, Sitz von Shiva und Devi, göttlichem Vater und Mutter aller Wesen. Der Kardinal verspricht bewegt, dies dem Heiligen Vater zu erklären.
In diesem Moment wird «Nostra Aetate» lebendig: als leise Sprache der Liebe, die sich im Verstehen erkennt.
Unter der gewaltigen Kuppel des Petersdoms fliesst das Licht wie flüssiges Gold über die Marmorwände. Neben mir sagt die Frau eines Rabbis, ihr Mann habe zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Angst, seine Kippa öffentlich zu tragen. Einen Augenblick lang wird alles in mir still. Ich bin tief erschüttert.
Rom ist in diesen Tagen kein Symbol vollendeter Einheit, sondern der Ort, an dem sie jeden Tag neu beginnt. Sechzig Jahre nach «Nostra Aetate» ist die Botschaft zerbrechlicher denn je: Wahrer Dialog verlangt dringend nach der Demut des Herzens.
«Nostra Aetate»
Wie ist es zur Konzilserklärung «Nostra Aetate» gekommen? Der Vatikanexperte Stefan von Kempis erklärt die historischen Hintergründe.
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