Bethlehem 2025

Menschen in der Geburtsstadt von Jesus. Eine Geschichte ohne Lametta und Krippenromantik.

Blick in die Children Street in Bethlehem.

Der Weg von Jerusalem nach Bethlehem führt zwangsläufig über einen Checkpoint: eine komplexe Anlage mit eigenen Regeln und einer strengen Hierarchie. An der östlichen Ecke: die Durchfahrt für Autos, deren Besitzer einen anderen als einen palästinensischen Pass haben oder die über entsprechende Genehmigungen verfügen. Vor allem bei der Reise in chronologischer Richtung, von der Geburt Jesu zum Grab, stauen sich ob mühsamer Kontrollen oft lange Autoschlangen. Der Komplex in der Mitte ist Fussgängern vorbehalten, einer Kategorie, in die die meisten Palästinenser fallen, die überhaupt die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete in Richtung Israel verlassen dürfen. Im Westen: ein weiterer Durchlass in der knapp neun Meter hohen israelischen Sperrmauer – ein schweres Metalltor zu einem Korridor. Darin, mit noch mehr Beton abgeschirmt: die Stätte, die in jüdischer Tradition als Grab der biblischen Stammmutter Rachel verehrt wird. 

Eingang zur Stätte, die in jüdischer Tradition als Grab der biblischen Stammmutter Rachel verehrt wird.

Orthodoxe Juden beten am Rachelsgrab.

Von ihr hat der Übergang von Jerusalem nach Bethlehem seinen israelischen Namen: Checkpoint am Rachelsgrab. Wenige Male im Jahr, wenn Christen der Ost- und Westkirchen den Beginn des Advents, Weihnachten oder Epiphanie feiern, öffnet sich das schwere Tor. Es gibt den Patriarchen oder dem Franziskanerkustos den traditionellen Zugweg von Jerusalem frei, der sie am Ende an ein Herzstück der Christenheit und der Weihnachtsgeschichte bringen wird: die Geburtskirche in der Altstadt Bethlehems. Achteinhalb Kilometer Luftlinie und die israelische Sperranlage liegen zwischen dem Geburtsort Jesu und dem Ort seines Todes und der Auferstehung.

Gerade wollen nicht viele Autos durch das Loch in der Mauer, das bei den Bethlehemern schlicht «Checkpoint 300» heisst. Auf palästinensischer Seite der Öffnung dominieren Graffiti die Betonwand. Botschaften politischer Natur, manchmal kämpferisch, manchmal mit Humor: «Checkpoint in 50 Metern. Bitte bereiten Sie Einschränkungen ihrer Freiheit vor.» Ein übergrosses Porträt der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh ziert den Mauerabschnitt am Caritas Baby Hospital. Als Al-Jazeera-Korrespondentin war die Christin in den meisten Wohnzimmern Palästinas Dauergast, bis sie im Mai 2022 von israelischen Soldaten erschossen wurde. 

Die Strasse zum Checkpoint am Rachelsgrab ist flankiert von hohen Sperranlagen.

Ein Porträt der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh.

Das war noch vor dem Krieg, den der Hamas-Angriff auf Südisrael am 7. Oktober 2023 auslöste. Er hat das Leben der Stadt, das Leben ihrer Bewohner massgeblich verändert. Zwei Wochen lang öffneten sich die Löcher in der Mauer gar nicht mehr. Nicht in Bethlehem, und auch sonst nicht im Westjordanland. Stattdessen brachte Israel zahlreiche neue Schranken, Barrieren, Absperrungen an, rund 120 allein im Gebiet Bethlehem. 

«Die Abriegelung, die wir seit dem 7. Oktober erleben, hat ein neues Level erreicht, das selbst die Zweite Intifada übersteigt», sagt Xavier Abu Eid. Und Bethlehem sei «wie üblich eines der am stärksten betroffenen Gebiete». Der Politikwissenschaftler ist Berater des «Negotiations Affairs Department» der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und spezialisiert auf Kommunikation, Tourismus und Archäologie. Mit «Rooted in Palestine» (dt. «Verwurzelt in Palästina») veröffentlichte er 2022 die erste englischsprachige palästinensische Untersuchung zur Frage nach dem Beitrag palästinensischer Christen im Kampf um die Befreiung Palästinas.

Massive Armut sei eine der Auswirkungen des Kriegs in Bethlehem, sagt eine Ordensschwester. Aus Angst vor israelischen Konsequenzen möchte sie weder ihren Namen noch ihre Gemeinschaft nennen. «Seit zwei Jahren herrscht Hunger, selbst wenn wir nicht in Gaza sind. Arbeits­erlaubnisse für Israel wurden entzogen, die Touristen bleiben aus, es gibt keine Arbeit.» Ihre Gemeinschaft hat sich mit den anderen Orden der Stadt zusammengetan, um zu helfen – mit Lebensmitteln wie Öl, Zucker, Mehl, und indem sie Schulgebühren, Stromrechnungen oder Kosten medizinischer Versorgung übernehmen. Ausserdem durch Arbeitsplätze. «Die Menschen brauchen ihre Würde», sagt die Schwester. Dabei sind die Orden auf Spenden angewiesen. Vor allem für Weihnachten hoffen sie auf Grosszügigkeit. «Wir bereiten besondere Weihnachtsessenspakete vor, nur mit guten Dingen, um aus dem Alltag rauszukommen. Es ist wichtig, dass die Menschen feiern können, Christen wie Muslime.»

Der Krieg hat das Stadtbild verändert. Dutzende Hotels sind geschlossen, die die Hauptstrassen Richtung Altstadt mit dem Krippenplatz und der Geburtskirche säumen. In den Cafés herrscht wenig Betrieb. Bei Afteem, dem vielleicht beliebtesten Familienrestaurant, seit 1948 an der Ecke vom Krippenplatz, duftet es wie immer nach Falafel und Humus. Nur Schlange stehen muss man derzeit nicht. Mit einem überdimensionalen Transparent am «Peace Center» dankt die Stadt jenen Staaten, die den Staat Palästina anerkannt haben. Die wenigen Reisegruppen aus Indonesien und Lateinamerika heben sich mit ihren einheitlichen Schals und Shirts hervor unter den wenigen, meist muslimischen Passanten. Während sie Selfies auf dem Kirchvorplatz machen, ruft der Muezzin der gegenüberliegenden Moschee zum Gebet.

In der Geburtskirche herrscht in diesem Jahr kein Gedränge.

Ein Besucher betet in der Geburtsgrotte.

Ohne Gedränge erreicht der Besucher die Geburtskirche, in deren Grotte ein silberner Stern auf weissem Marmor den Ursprungsort der Christenheit markiert. Eine Handvoll Franziskaner, drei Ordensschwestern und ein Priester ziehen in der täglichen Prozession von der benachbarten Katharinenkirche zur Geburtsgrotte und durch das unterirdische System weiterer Grotten wieder zurück. Erst gegen Ende schliesst sich ein einsamer Pilger den betenden Berufskatholikinnen und -katholiken an. Noch 2019, im Rekordjahr, hatten die an dem Gotteshaus beteiligten Konfessionen auf den Andrang reagiert und die Öffnungszeiten täglich um drei Stunden verlängert. Damals reichte die Schlange der Wartenden mitunter bis zum Kirchvorplatz.

«Was haben die ganzen Religiösen schon zu bieten, ausser ihrer ständigen Rede von Hoffnung?» Tourguide Michael Kanawati ist verbittert und wütend. Ansonsten, so der Bethlehemer Christ, dächten sie «nur an ihr Business». Die Tourguides hingegen machen schon lange keine Geschäfte mehr. Vielleicht geht es zum wichtigsten Fest der Stadt in diesem Jahr endlich aufwärts. «Wenn jetzt nichts passiert, werden wir an Weihnachten wieder viele Besucher haben», glaubt Kanawatis Kollege Aboud. Aber sie trauen der Beruhigung an den Fronten nicht. Ein neuer Krieg mit dem Libanon werde kommen, sagt Aboud. «Vielleicht an Weihnachten, wenn die ganze Welt mit Feiern beschäftigt ist und keiner hinschaut.»

Jack Giacaman ist als einziges der Geschwister noch da, damit das Familiengeschäft weitergeht.

Jack Giacaman ist als einziges der Geschwister noch da, damit das Familiengeschäft weitergeht.

Derzeit laufe das Geschäft vor Ort und online auf 30 Prozent im Verhältnis zu vor dem Krieg, «bei gleichen Ausgaben», sagt Jack Giacaman. Er gehört zu den alteingesessenen Familien, die sich auf das traditionelle Kunsthandwerk der Olivenholzschnitzerei spezialisiert haben. Aber die Besuchergruppen kommen zurück. «Inzwischen sind etwa ein Fünftel der Besucher zurückgekehrt, Tendenz steigend. Inzwischen kommen sogar wieder ein paar Amerikaner und Europäer», sagt er. Jack ist der einzige seiner Brüder und Schwestern, der nicht abgewandert ist – um das Familiengeschäft weiterzuführen. Es sei eine «schwere und schwerwiegende Entscheidung», sagt er, und dass sie doch «irgendwie hier in der Nähe der heiligsten Orte» bleiben müssten. Trotzdem bemüht sich der Christ inzwischen um einen zweiten Pass. Giacaman ist pessimistisch. Durch den Zuzug von vielen muslimischen Dörflern habe sich die Stadt längst verändert. «In fünf, sechs Jahren ist Bethlehem keine christliche Stadt mehr.» 

Viele Christen seien in den letzten beiden Jahren gegangen, sagt Pater Issa Thaljieh, der griechisch-orthodoxe Pfarrer der Geburtskirche. «Acht- bis neuntausend Christen sind wir noch in Bethlehem, von 35 000 Einwohnern, die christlichen Nachbarorte Beit Jalla und Beit Sahour nicht mitgezählt.» Der Stadt und den Christen tue das nicht gut, sagt der 42-jährige Geistliche mit dem immer freundlichen Lächeln. Er selbst kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort als neben der Krippe zu leben.

Pater Issa Taljieh kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort als neben der Krippe zu leben.

Pater Issa Taljieh kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort als neben der Krippe zu leben.

«Wir Christen sind in der Minderheit und leben in einer Stammesgesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt», sagt Johanna Kawwas-Schnydrig. Die Schweizerin ist die Nichte des Gründers des Caritas Baby Hospital, vor etwa 50 Jahren kam sie als Krankenschwester nach Bethlehem und ist geblieben. Viele Christen hätten angesichts der Lage das Gefühl, nur dasitzen und schweigen zu können. «Aber wir haben nicht das Privileg, keine Hoffnung zu haben», sagt sie.

Gerade diese Hoffnung falle den Menschen schwer, sagt Mai Nasser. Bis zu ihrer Pensionierung im September hat die Christin aus Beit Jalla an der Bethlehem-Universität Englische Literatur gelehrt. «Die Menschen sind über alles verbittert. Sie haben keine Zukunftspläne, vor allem die Jungen sehen düster.» Zwar sei es derzeit friedlicher, aber «ein Licht am Ende des Tunnels» sähen die meisten nicht. Auch wenn sie selbst bei Verwandten in Lateinamerika feiern wird, «zum ersten Mal überhaupt», wünscht sie der Stadt und ihren Bewohnern «viele Besucher und dass wir die Geburt Jesu friedlich feiern können».

Mai Nasser hat als Dozentin an der Bethlehem-Universität erlebt, welche Verbitterung fehlende Zukunftsperspektiven auslösen.

Mai Nasser hat als Dozentin an der Bethlehem-Universität erlebt, welche Verbitterung fehlende Zukunftsperspektiven auslösen.

Zumindest die Stadtverwaltung will das ihre dazu beitragen. In diesem Jahr wird es wieder einen zentralen Weihnachtsbaum geben, und auch der Weihnachtsmarkt ist für ein paar Dezembertage zurück in den malerischen Altstadtgassen. Weihnachten zu feiern, sei Teil ihrer Resilienz, betont Xavier Abu Eid. Auch die Tourismusbranche Bethlehems sei widerstandsfähig: «Viele Menschen haben ihre Hotels nicht verkauft. Sie haben sie vorübergehend geschlossen. Mit anderen Worten: Die Kapazitäten sind vorhanden. Wenn überraschend die grosse Wende und mit ihr mehr Besucher kämen: Bethlehem wäre bereit.» Mit Blick auf das Fest gibt sich Abu Eid verhalten optimistisch. Sicher werde es kein Weihnachten wie vor ein paar Jahren. Aber besser als letztes Jahr «auf jeden Fall».