Als die «Magna Charta» des jüdisch-römisch-katholischen Dialogs bezeichnete Christian Rutishauser die Erklärung «Nostra aetate» an deren Jubiläumsveranstaltung in der Zürcher Paulus Akademie am Sonntag, 23. November. «Nostra aetate» – übersetzt «In unserer Zeit» – wurde am 28. Oktober 60 Jahre alt. Ein Grund zum Feiern und Anlass zur Frage, wie es um den jüdisch-römisch-katholischen Dialog in unserer Zeit stehe. Eingeladen dazu hatte die Jüdisch/Röm.-katholische Gesprächskommission JRGK der Schweizerischen Bischofskonferenz und des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes.
«Nostra aetate» ist während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) entstanden. Die Erklärung beschreibt die Haltung der römisch-katholischen Kirche zu den nicht christlichen Religionen. Das Herzstück des Schreibens ist das vierte Kapitel, das die Haltung zum Judentum definiert, die bis zu diesem Datum höchst konfliktiv und Quelle für Antisemitismus während 2000 Jahren war.
Die Jüdisch/Römisch-katholische Gesprächskommission der Schweiz JRGK, vertreten durch deren Co-Präsidenten, den Jesuiten Christian Rutishauser und den Rabbiner Jehoshua Ahrens hatten zur Veranstaltung eingeladen. Grussworte sprachen der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, Ralf Friedländer und der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain. Als Referenten und Podiumsteilnehmer waren Pinchas Goldschmidt, Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner (CER) und Kardinal Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen eingeladen. Unter den Gästen befanden sich auch hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der christkatholischen und der reformierten Kirche.
Die beiden Co-Präsidenten der JRGK Jehoshua Ahrens (links) und Christian Rutishauser waren Gastgeber der Feier.
Christoph Knoch
Die Gastgeber zeichneten in ihren Begrüssungsworten die Geschichte des jüdisch-römisch-katholischen Dialogs nach und erinnerten an Meilensteine, wie etwa den ersten Synagogenbesuch eines Papstes – von Johannes Paul II. – im Jahr 1986 in Rom. Oder an sein Schuldbekenntnis im Jahr 2000 gefolgt von einem Besuch an der Klagemauer, wo der Papst den Text des Bekenntnisses auf einem Zettel in deren Ritze steckte. «Wir Juden hatten Glück mit den Päpsten seit «Nostra aetate», sagte Jehoshua Arens und sprach von den guten Beziehungen zwischen dem Oberrabbinat in Jerusalem und dem Vatikan bis zum Terrorangriff der Hamas im vergangenen Oktober. Die Reaktion von Papst Franziskus stiess auf Kritik von jüdischer Seite, weil er den Terrorangriff der Hamas nicht unmissverständlich verurteilt und das Massaker nicht von den zivilen Opfern des israelischen Selbstverteidigungskrieges unterschieden habe, wie dies rund 400 Jüdinnen und Juden aus Europa in einem Offenen Brief an den Papst formulierten.
Dialog ist Arbeit, Zeichen der Wertschätzung, hat Vorbildcharakter.
Ralf Friedländer erinnerte in seinem Grusswort an den Friedensapell Papst Leos XIV. anlässlich des 60-Jahre Jubiläums in Rom am 28. Oktober, in dem er sich gegen eine Instrumentalisierung von Religionen ausgesprochen habe. Der Dialog zwischen den Vertretern der Religionen sei wichtige Arbeit, Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung und habe Vorbildcharakter für jede noch so kleine Gemeinde, sagte Ralf Friedländer. Auch Bischof Joseph Maria Bonnemain betonte die Wichtigkeit, Eintracht und Geschwisterlichkeit zu fördern. Die heutige Welt habe positive Vorbilder nötiger denn je.
Pinchas Goldschmidt (links) ist Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, Kurt Koch Kurienkardinal und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen.
Christoph Knoch
Pinchas Goldschmidt erinnerte in seinem Referat an das Dokument «Zwischen Jerusalem und Rom» aus dem Jahr 2017, das eine Antwort des orthodoxen Judentums auf «Nostra aetate» darstelle. Denn bis dahin sei vor allem das liberale Judentum am Interreligiösen Dialog beteiligt gewesen. Der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner zeigte sich besorgt über die fortschreitende Säkularisierung in Europa. Der neu aufkeimende Antisemitismus finde dadurch keinen Widerstand. «Als Europa religiös war, war der Antisemitismus religiös. Im säkularisierten Europa ist der Antisemitismus rassistisch. Nach der Shoah richtet sich der Antisemitismus gegen den Staat Israel», sagte Pinchas Goldschmidt. Gemeinsam mit der römisch-katholischen Kirche wolle er gegen Relativismus, Materialismus und religiöse Gleichgültigkeit kämpfen.
Kardinal Kurt Koch verwendete das Gleichnis des «edlen» Ölbaums, um das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum zu bestimmen. Die Wurzel – das Judentum – trage den aufgepfropften Zweig. Das Christentum habe demnach ein besonderes Verhältnis zum Judentum, es gehöre zum inneren Selbstverständnis, ohne das die eigene Religion gar nicht zu verstehen sei. Neben dieser Einheit gebe es aber unterschiedliche Glaubensüberzeugungen, die ernstgenommen und akzeptiert werden müssten.
Auf dem anschliessenden Podium beantworteten Kardinal Kurt Koch und Rabbiner Pinchas Goldschmidt die Fragen von Christian Rutishauser und Jehoshua Arens. Mit Blick auf die vergangenen zehn Jahre betonten der jüdische und römisch-katholische Vertreter die Wichtigkeit der persönlichen Beziehungen im gemeinsamen Dialog.
Theologischer Diskurs muss wichtig bleiben - und die Frage nach der Identität von Religion.
Kardinal Kurt Koch betonte die Wichtigkeit, weiterhin theologische Probleme zu bearbeiten und sich gegenseitig beim Verständnis zu helfen. «Vier Augen sehen mehr als zwei», sagte der Kardinal. Pinchas Goldschmidt gab zu bedenken, dass statt des theologischen Diskurses vielmehr die Frage der Identität von Religion in den Fokus der Menschen gerückt sei.
Auch realpolitische Fragen wurden auf dem Podium diskutiert. Etwa die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung. Kardinal Kurt Koch verwies auf die biblische Geschichte von Abraham und Lot, die sich darauf einigten, das von beiden beanspruchte Gebiet zu teilen. Pinchas Goldschmidt erinnerte daran, dass 1956 in der Europäischen Rabbinerkonferenz Rabbiner Lord Jakobovits eine Zweistaatenlösung bereits vorgeschlagen habe. Goldschmidt ist aber überzeugt, dass ein Palästinenserstaat erst möglich sei, wenn Iran aufhöre, seine islamische Revolution zu exportieren.
Auf Papst Leo XIV. liegt viel Hoffnung. Das wurde an diesem Anlass offenkundig. Das Jubiläum von «Nostra aetate» in Rom mit den Gästen aus den verschiedenen Religionen habe Anlass zu dieser Hoffnung gegeben, sagte Pinchas Goldschmidt. Denn warme Beziehungen zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche seien zentral in einer Zeit aufkeimenden Antisemitismus der extremen Linken und Rechten, der auch in der römisch-katholischen Kirche der USA vertreten sei. Die Frage, ob der Papst bald nach Israel reisen werde, blieb offen.
Religionen seien die besten Lehrkräfte, um das Überleben der Werte zu vermitteln.
Pinchas Goldschmidt zitierte den Papst mit den Worten: «Der Krieg ist niemals heilig, nur der Frieden ist heilig, weil er von Gott gewollt ist!» und betonte, dass in einer säkularisierten Welt mit gleichzeitiger zunehmender Radikalisierung und religiös gefärbten Konflikten solche Stimmen religiöse Akteure wichtig sei. «Die europäischen Religionen sind die besten Lehrkräfte, um das Überleben der Werte in der Gesellschaft zu vermitteln.»
Zum Abschluss der Veranstaltung überraschten die Gastgeber mit der Erklärung der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission: «60 Jahre nach Nostra aetate: Selbstverpflichtung, die bleibt».
Die Erklärung im Wortlaut
Erklärung der Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission
der Schweizerischen Bischofskonferenz
des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes
60 Jahre nach Nostra aetate: Selbstverpflichtung, die bleibt
Gesellschaftlicher Kontext
Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils hat sich der historische und politische Kontext für den jüdisch-katholischen Dialog verändert: Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg stellen eine Zäsur dar, die gewachsenes Vertrauen auf die Probe stellt. Neue Formen eines aggressiven Antisemitismus nehmen weltweit zu und verbreiten sich unter israelkritischem Vorzeichen in weiten Kreisen. Die Erinnerungskultur an die Schoa und das «Nie wieder!» wird durch eine Auffassung des Zionismus als Kolonialismus verdrängt. Die Kirche in Europa und Nordamerika, wo sich der jüdisch-christliche Dialog entwickelt hat, verliert zudem an gesellschaftlichem Gewicht. Das Christentum erstarkt in Afrika und Asien, wo kaum lebendige Beziehungen mit Juden und Jüdinnen möglich sind und die Sensibilität für die jüdisch-christliche Beziehung fehlt.
Belastbare Dialoggrundlage
Demgegenüber haben bedeutende Erklärungen der jüngeren Vergangenheit dem Dialog eine belastbare Grundlage gegeben. Dazu zählen «Dabru emet – Redet Wahrheit» (2000) sowie aus dem orthodoxen Judentum «Den Willen unseres Vaters im Himmel tun» (2015) und «Zwischen Jerusalem und Rom» (2017). Das Dokument der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum «Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. (Röm 11,29)» (2015) hat das Verhältnis von Judentum und Christentum theologisch reflektiert. Alle Erklärungen sind getragen von einem Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit wie auch für eine wertbasierte Gesellschaft, die Minderheiten und die Bewahrung der Schöpfung im Blick hat. Der gemeinsame Bezug auf den einen Gott trägt auch den unaufhebbaren Unterschieden zwischen Judentum und Christentum Rechnung.
Bleibende Selbstverpflichtung der Kirche
Keine christliche Identität ohne Judentum: Das Volk Gottes besteht aus jüdischen und christlichen Menschen, ein Gottesvolk in zwei Gemeinschaften. Denn «Gott wirkt weiterhin im Volk des alten Bundes». (Papst Franziskus) Die biblische Bundesgeschichte setzt sich bis heute fort und will für alle Menschen Segen sein, denn alle Menschen sind im Abbild Gottes geschaffen.
Keine Israelvergessenheit beim Blick in die Bibel: Nicht nur die Schriften des Alten Testaments teilt die Kirche mit dem Judentum. Auch die neutestamentlichen Schriften sind jüdisch geprägt. Das Deutemuster von Verheißung-Erfüllung kann keine Ersetzung Israels bedeuten. Vielmehr gilt es, die jüdische Identität Jesu und seine Bedeutung für die Kirche tiefer zu verstehen.
Keine christliche Praxis ohne Bezug zum Judentum: Christen und Christinnen sind auf das Judentum nicht nur in der Auslegung der Heiligen Schrift verwiesen, sondern auch im Glauben an den einen Gott, im liturgischen Feiern, im Ringen um eine zeitgemäße Ethik und Rechtsprechung sowie im Engagement für die gegenwärtige Gesellschaft. In allen Bereichen der Ausbildung muss das Judentum ein Querschnittsthema sein.
Kein christlicher Antijudaismus: Wird die konstitutive Bindung der Kirche an das Judentum verdrängt, entsteht eine Verachtung von Juden und Jüdinnen. Daher muss die Kirche handeln und den christlichen Antijudaismus auch in seinen subtilen Formen, wie das Judentum einfach zu verschweigen, bekämpfen.
Aktuelle Herausforderungen für beide Glaubensgemeinschaften
Land und Staat Israel sind in ihrem Verhältnis zum Judentum in der Diaspora vertieft zu reflektieren. Es ist darauf zu achten, dass der jüdisch-christliche Dialog dabei nicht politisch instrumentalisiert wird.
Das Phänomen Antisemitismus tritt in einer globalisierten Welt in neuen Formen auf. Zusammen mit anderen religiösen und zivilen Akteuren ist Antisemitismus multiperspektivisch zu erforschen und zu bekämpfen.
Mit Blick auf den Islam und auf den jüdisch-islamischen Dialog ist nach der gemeinsamen wie auch der je eigenen Berufung von Judentum, Christentum und Islam im Dienst an der Menschheit zu fragen.
Worauf wir hoffen
«Unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes». (Röm 11,29) Als Geschwister sind wir einander anvertraut. Vertrauen hat denn auch den Dialog durch die Irritationen und Krisen der letzten sechzig Jahre getragen. Freundschaften sind gewachsen. Partner sind wir geworden. An uns ist es nicht, Dinge zu vollenden, doch wir sind gehalten, sie zu beginnen und beharrlich weiterzuverfolgen. (Avot 5)
Zürich, 23. November 2025
Bischof Joseph Maria Bonnemain, SBK
Präsident Ralph Friedländer, SIG
Prof. Dr. Christian M. Rutishauser SJ, Co-Präsident der JRGK
Rabbiner Dr. habil. Jehoshua Ahrens, Co-Präsident der JRGK
Prof. em. Dr. Verena Lenzen
Prof. em. Dr. Mariano Delgado
Dr. Jonathan Kreutner
Dr. Simon Erlanger
Dr. Richard Breslauer
Dr. Martin Steiner
Pfr. René Alain Arbez
Herr Michel Bollag