Mystik – das klingt für viele geheimnisvoll, vielleicht sogar ein bisschen esoterisch. Doch eigentlich ist Mystik nichts Abgehobenes. Sie meint die unmittelbare Erfahrung von Gottesnähe – ein Geschehen, das Menschen seit Jahrhunderten bewegt.
Auch Thomas von Aquin, der wohl grösste Theologe des Mittelalters, erlebte eine solche mystische Tiefe. 1273, kurz vor Vollendung seines Werkes «Summa Theologica», hatte er eine überwältigende Gotteserfahrung während der Messe. Danach legte er den Stift nieder. Auf die Nachfrage seines Sekretärs, warum er nicht weiterschreibe, soll Thomas geantwortet haben: «Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich geschaut habe.»
Die Summa blieb unvollendet. Nicht, weil Thomas zu schwach oder müde gewesen wäre, sondern weil er die Erfahrung Gottes als grösser empfand als jede noch so geniale Theologie. Selbst der rationalste Kopf kann in der Mystik an eine Grenze kommen, wo Sprache und Denken verstummen müssen. Im Kern geht es um eine Erfahrung, die tiefer reicht als Gefühle oder Gedanken. Es ist das stille Ergriffensein, ein inneres Ankommen.
Das klingt atemberaubend, und ist zugleich normaler, als man denkt. Mystik ist nicht nur für Heilige im Kloster. Mystik heisst: das Abenteuer einzugehen, Gott mitten im Leben zu entdecken. Dieses Abenteuer spielt nicht in fernen Ländern, sondern im eigenen Herzen. Es ist ein Weg, auf den man sich begibt. Es ist kein Weg der Weltflucht, kein abgehobener Sonderweg, sondern der Weg zu einer vertieften Wahrnehmung: im Gebet, in der Natur, in der Musik, manchmal sogar in der Hektik des Alltags. Mystik kann man nicht «machen». Aber man kann sich öffnen: für Momente der Stille, für das Staunen, für das einfache Gebet. Es ist ein Wachsein für das Wirken Gottes, für das, was grösser ist als wir – ein Gespür für die Tiefe des Lebens.
Der Theologe Karl Rahner sagte treffend: «Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht mehr sein.»