Widmer & Binotto

Müssen wir Geheimnisse haben?

Die Frage lässt keinen Raum für Ausflüchte. Dann also mit Entschiedenheit: Ja, wir Menschen müssen Geheimnisse haben!

Diese Klarheit habe ich durch intensive Feldstudien gewonnen. Ich habe beobachtet, wie in Schulhäusern aus Stahl und Glas mobile Wände den Blick ins und aus dem Schulzimmer verstellen. Sie wurden vermutlich am Tag der Einweihung bestellt, unmittelbar nachdem der Segen einer komplett transparenten Lernumgebung gepriesen wurde.

Ich war in Magiershows und wollte mit anderen Rationalisten partout daran glauben, dass Zauberei möglich ist. – Ich habe Jugendliche erlebt, die es trotz Handy geschafft haben, ihre Eltern nächtelang im Dunkeln zu lassen. – Ich kenne Menschen, die ihr Alter für topsecret erklären.

Im Selbstversuch habe ich festgestellt, dass ich augenblicklich ausbüxe, sobald ich definiert werde. Notfalls würde ich mich als Geheimwaffe des Vatikans oder als Maulwurf der Antipapisten outen, je nachdem woher gerade der Wind der Enttarnung weht. Wer so unvorsichtig wäre, mich in einem Interview als Erstes «Wer sind Sie?» zu fragen, der bekäme eine mehr verhüllend als klärend wirkende Antwort. Sogar mir selbst bleibe ich ein Geheimnis, mit jedem Lebensjahr unergründlicher.

Mein Faible für Geheimnisse ist dogmatisch akkurat in der Römisch-katholischen Kirche verankert. Sie feiert Eucharistiefeier für Eucharistiefeier ein «Geheimnis des Glaubens». Wunderschön gebetet – von Glaubenshalbstarken, die sich ganz sicher sind, grausam missachtet.

Kaum ein Liebesfilm, der nicht mit der Drohung aufwartet: «Von nun an haben wir keine Geheimnisse mehr voreinander.» Sollte die komplette Entzauberung allerdings tatsächlich eintreten, würde es für die Paartherapie höchste Zeit, denn mit der vollkommenen Transparenz macht sich auch eine perfekte Leere breit. Ist erst mal das Geheimnis gestorben, löst sich früher oder später die Beziehung in Luft auf.