Weshalb schreibt ein Bahnmanager wie Benedikt Weibel ein Buch über Bücher?
Natürlich vor allem deshalb, weil ich ein leidenschaftlicher Leser bin. Das war ich – Kind und Enkel von Buchdruckern – schon lange, bevor ich zur Bahn gekommen bin. Seit Mitte der 1990er-Jahre führe ich zudem Buch über gelesene Bücher. Ich schreibe als Erinnerungsstütze kurze Inhaltsangaben und notiere Zitate, die mich beeindrucken. Das ist die Basis für mein Buch. Die darin vorgestellten Bücher sind für mich, wie es im Untertitel des Buches steht, «Quellen der Lust und der Erkenntnis». Genau das möchte ich auch meinen Leserinnen und Lesern vermitteln.
Wir sitzen im Zug von Schaffhausen nach Romanshorn, dem Bodensee entlang. Nichts Aussergewöhnliches für einen Vollblut-Bähnler wie Benedikt Weibel. Speziell ist allerdings, dass wir uns weder über die SBB noch über Bahnpolitik unterhalten. Wir reden über Bücher. Über eine Leidenschaft, die Weibel noch länger pflegt als jene zur Bahn.
«Abenteuer Lesen» ist ein richtiger Wälzer geworden. Über 500 Seiten dick.
Ich habe vier Jahre daran geschrieben, so lange wie an keinem anderen meiner Bücher. Es sind insgesamt 100 Bücher, die ich präsentiere. Und das Schreiben hat so viel Spass gemacht wie bei keinem anderen meiner Bücher.
Mit welchem Buch hat Ihre «Karriere» als Leser begonnen?
Mit Meinrad Lienerts «Schweizer Sagen und Heldengeschichten». Die haben mich als Junge kolossal beeindruckt. Uli Rotach, vor einer brennenden Hütte die Axt schwingend, dieses Bild hat sich unauslöschlich eingeprägt.
Mit Lienert beginnt auch Ihr Buch. Ist es auch eine Art Autobiografie in Büchern?
In gewisser Weise schon. Zumindest habe ich die Bücher so geordnet, wie ich sie gelesen habe. In meiner Lebensgeschichte waren Bücher die erste Konstante. Darauf folgten die Berge. Dann meine Frau. Und schliesslich die Eisenbahn. Was ich lese und meine Notizen dazu sind für mich tatsächlich eine Art Tagebuch.
Wie kommen Sie zu Ihren Büchern?
Manchmal ist es ein Buchrücken in einer Bibliothek. Oder ein Cover fasziniert mich. Oft sind es Empfehlungen von Menschen. Und sehr häufig wecken Randnotizen in Zeitschriften oder Zeitungen mein Interesse für ein Buch.
Und wie halten Sie es mit dem Besitz von Büchern?
Meine Bibliothek ist auf drei Stockwerke verteilt: Unten bei den Fitnessgeräten stehen Bergliteratur, Reiseführer und Bücher zur Bahn. Im Parterre liegen die Bücher, die ich gerade lese. Und oben in der eigentlichen Bibliothek steht rechts die Literatur, nach Ländern geordnet, und links stehen die Bücher zur Philosophie, Politik und Ökonomie. Wir haben eine grosse Wohnung, da haben sehr viele Bücher Platz. Inzwischen muss allerdings für jedes neue Buch mindestens ein altes weg. Als Erstes trifft es grosse Fotobände, die man meist ohnehin nur einmal anschaut.
Benedikt Weibel mag vielschichtige Bücher, die mehr als nur eine Geschichte erzählen und mehr als nur ein Thema vertiefen.
Alexandra Wey
Lesen Sie andere Bücher mehrmals?
Früher habe ich das nur selten gemacht. Für meine Anthologie habe ich dann aber systematisch jedes Buch nochmals gelesen. «Buddenbrooks» von Thomas Mann habe ich inzwischen sogar dreimal gelesen. Das erste Mal, während meiner Kantizeit, da hat es mich gelangweilt. Das zweite Mal, auf einer Reise nach Sardinien, wurde ich voll gepackt. Und jetzt, bei der dritten Lektüre, fand ich es sogar noch besser.
Der Bodensee liegt ruhig und weit vor uns. Das Gespräch jedoch hüpft lustvoll und auch ein wenig atemlos von Buch zu Buch. Beinahe verpassen wir den Umstieg in Romanshorn.
Gibt es Bücher, die Sie heute weniger begeistern als früher?
Durch Hermann Hesses «Demian» bin ich jetzt nur mit grosser Mühe durchgekommen. Als junger Mensch habe ich sehr intensiv Hesse gelesen. Heute ist mir das alles zu esoterisch.
Haben Sie ein absolutes Lieblingsbuch?
Da kann ich mich nicht entscheiden. Alle Bücher, die ich vorstelle, haben mich berührt. Als Jugendlicher hat mich das Bergsteigerbuch «Die Weisse Spinne» von Heinrich Harrer unglaublich beeindruckt. Bergführer war dann auch mein erster Beruf. Eine sehr späte Entdeckung ist Egon Friedells «Kulturgeschichte der Neuzeit». Dieses monumentale Werk, zwischen 1927 und 1931 entstanden, ist so überschäumend enzyklopädisch und sprächmächtig. Ungeheuer faszinierend!
Also kein Lieblingsbuch. Aber ein Lieblingsgenre?
Ich habe versucht, jedes der 100 Bücher einem Genre zuzuordnen und bin auf 19 Genres gekommen. Nur die Benediktsregel konnte ich nirgends zuordnen. Ich bin sehr breit interessiert. Was ich besonders liebe, sind mehrdimensionale Bücher. Beispielsweise «Die Riemannsche Vermutung» von Atle Næss. Eine Liebesgeschichte, aber auch ein Buch über die Schönheit der Mathematik. Oder «Unser allerbestes Jahr» von David Gilmour. Eine rührende Vater-Sohn-Geschichte und gleichzeitig eine Ode ans Kino.
Haben sich mehrdimensionale Bücher auch schon auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Ich hatte für Ferien auf Sardinien von Caroline Alexander «Die Endurance» eingepackt, ein Buch über die legendäre Antarktis-Expedition von Ernest Shackleton. Das ist einerseits fesselnde Abenteuerlektüre, aber auch eines der besten Managementbücher überhaupt. Seither setze ich es als Dozent zum Thema «Führung» ein.
Gibt es Bücher, die Sie ärgern?
Eigentlich nicht. Manchmal verliere ich einfach die Lust am Lesen. Kürzlich ist es mir mit Caroline Wahls «Windstärke 17» so gegangen. Ich fand das Buch zunehmend repetitiv und vorhersehbar. Und vor allem sehr depressiv. Ich mag depressive Bücher gar nicht. Melancholie, wie in Haruki Murakamis «Naokos Lächeln», ist dagegen grossartig.
Welches sind Ihre Leseorte und -zeiten?
Vor dem Einschlafen. Ferien. Und natürlich Zugfahrten! Sie sind ein grossartiger Ort zum Nachdenken: lesen, reflektieren, rausschauen. Das ist inspirierend. Ich kann mich im Zug auch gut konzentrieren, selbst wenn es ringsum laut ist.
Inzwischen sitzen wir im Zug von Rorschach nach Winterthur. Auch auf dieser Strecke bleibt wenig Zeit zum beschaulichen Rausschauen.
Was haben Sie heute im Rucksack mit dabei?
Ich lese immer mehrere Bücher gleichzeitig. Jetzt gerade Urs Widmers Autobiografie «Reise an den Rand des Universums». Das hat mir ein Freund wärmstens empfohlen. Und es ist tatsächlich grossartig. Dann habe ich von den 100 Büchern «Play It Again» mitgenommen. Der Autor Alan Rusbridger, langjähriger Chefredaktor des «Guardian», erzählt darin hinreissend vielschichtig, wie er sich als ambitionierter Amateur-Pianist vornimmt, die ungemein schwierige Ballade Nr. 1 von Frédéric Chopin einzustudieren. Und schliesslich noch mein eigenes Buch, weil ich heute Abend eine Lesung habe.
Alexandra Wey
Zugfahrten sind grossartig zum Nachdenken:
lesen, reflektieren, rausschauen.
Sind Sie ein Schnell- oder ein Langsamleser?
Meist ein Schnellleser. Aber wenn mich etwas interessiert, dann mache ich mir Notizen ins Buch, markiere Abschnitte, schreibe Zusammenfassungen. Damit memoriere ich meine Lektüre. Für «Abenteuer Lesen» habe ich natürlich langsamer, konzentrierter und methodischer gelesen.
Sie erzählen so begeistert von Büchern, springen leichtfüssig von Buch zu Buch. Die Lust am Lesen will offenbar verbreitet werden.
Ich habe meinen beiden Söhnen Erich Kästner sehr früh vorgelesen, so früh, dass ich den Text in Mundart übersetzen musste. Es freut mich, dass auch sie begeisterte Leser geworden sind. Einzelne Bücher der Anthologie musste ich sogar bei meinen Söhnen suchen, weil sie nicht mehr in meiner Bibliothek waren. Und seit über 50 Jahren treffe ich mich jeden Montag in Bern mit Freunden zum Mittagessen. Jedes Mal tauschen wir uns sicher eine halbe Stunde über Bücher aus. Nur beim Bücherschenken bin ich sehr zurückhaltend. Menschen und Geschmäcker sind ganz verschieden.
Gibt es Genres, die Sie nicht interessieren?
Ich hatte nie einen Bezug zu Fantasy. Und auch nicht zu Science-Fiction. Zu «Momo» von Michael Ende habe ich beispielsweise keinen Zugang gefunden.
Und Bücher, die Sie trotz gutem Willen nicht geschafft haben?
Für «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» von Marcel Proust habe ich mehrere Anläufe genommen, es aber nie über die ersten 40 Seiten hinausgebracht.
Wie gross ist der Prozentsatz ungelesener Bücher in Ihrer Bibliothek?
Ich vermute, der liegt bei etwa 20 Prozent. Dazu haben bis vor kurzem auch die drei Hauptwerke von Charles Ferdinand Ramuz gehört. Jetzt habe ich sie endlich alle gelesen. Auslöser dafür war der Bergsturz von Blatten im Mai dieses Jahres. In «Derborence» von Ramuz geht es ja um einen Bergsturz im Jahr 1714, der sich ebenfalls im Wallis ereignete. Aktuelle Ereignisse sind für mich häufig der Anlass, historische Bücher zu lesen. Daraus ergibt sich manchmal ein Schneeball-Effekt, weil ich immer tiefer in ein Thema eindringe.
In Ihrer Sammlung taucht auch Lyrik auf. Das würde man von einem Manager noch weniger erwarten als ein Buch über Bücher.
Ich mag Lyrik sehr, obwohl es nur das Büchlein von Mascha Kaléko in die Auswahl geschafft hat. Dieses Buch habe ich übrigens vor vielen Jahren meiner Frau geschenkt. Ich liebe auch die Gedichte von Erich Kästner und Hans Magnus Enzensberger. Und von Wolf Biermann habe ich sämtliche Gedichtbände von vorne bis hinten durchgelesen.
Sie haben erzählt, dass Sie sich bemerkenswerte Zitate aus Büchern notieren. Was davon geht Ihnen jetzt gerade durch den Kopf?
Søren Kierkegaard hat sinngemäss einmal geschrieben: «Die Tragik des Menschen besteht darin, dass er das Leben nur rückwärts verstehen kann, es aber vorwärts leben muss.» Und als Manager kommt mir immer wieder Stefan Zweig in den Sinn: «Freiheit ohne Autorität ist Chaos – Autorität ohne Freiheit ist Tyrannei.»
Unsere kurze Reise durch die Ostschweiz geht wie geplant in Winterthur zu Ende. Das Gespräch über die lebenslange Lesegeschichte von Benedikt Weibel müssen wir jedoch abrupt abbrechen, weil jedes Buch zu einem weiteren Buch führt und zu noch einem Buch.
zvg
erschienen 2025
im Verlag Edition Exodus
ISBN 978-907386-06-4
Aus der Buchbeschreibung:
«Die Lektüre eines Buches ist ein Abenteuer. Ich trete ein in eine neue Welt, ohne zu wissen, welche Emotionen auf mich warten und wohin mich die Lektüre mitnimmt.»