Sie sind Seelsorgerin in der Citypastoral St. Gallen und arbeiten an der Uni Luzern in der Liturgiewissenschaft. Was interessiert Sie an der neuen Nutzung von Kirchen?
Mein Interesse kommt sowohl aus persönlicher Erfahrung als auch von der Liturgiewissenschaft her. Dort ist das Thema sehr präsent. Seit Jahrzehnten wird diskutiert, wie Sakralbauten jetzt und zukünftig genutzt werden können.
Was interessiert Sie persönlich daran?
In St. Gallen, wo ich wohne, müssen die katholische wie auch die reformierte Kirche ihre Liegenschaften deutlich reduzieren. Auch Umnutzungen oder gar Verkäufe von Kirchen sind kein Tabu mehr. Unsere Kirchgemeinde hat einen Vernehmlassungsprozess gestartet und zehn Bereiche definiert, die es bei der Frage nach möglichen Umnutzungen zu berücksichtigen gilt. Wir sind als Team mit dem Fahrrad zu den einzelnen Standorten gefahren, haben uns gemeinsam überlegt, wie wir die Orte wahrnehmen, die umliegenden Quartiere, die Ökumene… das war interessant.
Was haben Sie beim Herumfahren entdeckt?
Wir sind zum Beispiel zu einer Kapelle gekommen, die heute direkt an einer Autobahnauffahrt steht. Da rauschen Autos vorbei, und Fussgänger kommen kaum hin, vielleicht einige, die mit ihren Hunden Gassi gehen. Da wird natürlich sofort klar, dass es keinen Sinn macht, dort einen Raum der Stille einzurichten. Bei einer anderen Kapelle kam uns der Gedanke, dass sie sich als Kirche für orthodoxe Christen eignen würde – sie brauchen gegenwärtig viel Raum. Vor Ort erfährt man oft auch direkt etwas über die Besitzverhältnisse: Gehört die Kirche dem Bistum oder einer Ordensgemeinschaft – kann man also überhaupt Einfluss nehmen, wie sie neu genützt werden könnte?
Heisst das: raus aus den Büros und unter die Leute?
Wir sind davon weggekommen, theoretisch über die Fragen zu diskutieren, oder ideologisch. Man muss vor Ort schauen und dann entscheiden. Gerade in der Stadt St. Gallen werden aber leider immer noch zu wenig Synergien genützt. Es wird weiterhin lieber neu gebaut, als zuerst abzuklären, ob nicht bestehende Gebäude – auch Kirchengebäude – genützt werden können für das, was jetzt von einer Schule oder einer anderen Religionsgemeinschaft gebraucht wird. In anderen Städten – zum Beispiel Basel – sieht das anders aus.

Elke Hegemann / zvg
Ann-Katrin Gässlein (*1981) ist wissenschaftliche Assistentin an der Professur für Liturgiewissenschaft der Universität Luzern. Die promovierte Theologin arbeitet ausserdem bei der Cityseelsorge der Katholischen Kirche im Lebensraum St. Gallen. Sie hat das Sachbuch «KirchenRaum. Begegnung neu denken» herausgegeben.
Kirchen werden an vielen Orten der Welt umgenutzt. Haben Sie ein Lieblingsprojekt?
Im Ausland konnte ich mir noch gar nicht so viele Projekte selbst ansehen. Ich musste mich für das Buchprojekt auf die Beschreibungen verlassen – da gibt es Kirchen, die als Kletterhallen, Turnhallen, Bibliotheken, Cafés und vieles mehr genutzt werden. Und mir ist aufgefallen, dass diese oft recht werbend sind und das Positive an der neuen Situation hervorheben. In der Schweiz gefällt mir der MaiHof – Pfarrei St. Josef in Luzern ziemlich gut.
Was finden Sie daran gut – und was vielleicht auch weniger?
Gut finde ich, dass das Projekt von der Kirchgemeinde selbst initiiert wurde. Als der Kirchturm sanierungsbedürftig war, zeigte eine Umfrage, dass die Leute den Turm behalten wollten. Sie wollten «ihren» Kirchturm als optisches Signal, wie auch die Kirche als Markenkern im Quartier. Vor der weiteren Renovation hat man dann rechtzeitig Überlegungen zur Neu- und Weiternutzung angestellt – und so hatte man Zeit, den Ort so umzugestalten, dass die Menschen ihn brauchen können. Schon vorher war die Kirchgemeinde gut vernetzt gewesen, und jetzt ist sie es noch besser. Es war ein organischer, partizipativer Prozess. Und es scheint sich auch finanziell zu lohnen: Der Ort ist gefragt und wird für Veranstaltungen gemietet. Die Universität feiert jetzt zum Beispiel ihre Diplomverleihungen im MaiHof, verbunden mit einer Wort Gottes- oder einer interreligiösen Feier.
Es gibt aber schon auch schwierige Aspekte. Der Tabernakel steht weiterhin im Kirchenraum, der Raum wird aber sehr vielfältig genutzt. Da frage ich mich, warum man die Kirche nicht profaniert und zumindest die liturgischen Geräte entfernt hat, die für die Feier der Eucharistie bestimmt sind – dafür gibt es nämlich eine Kapelle im gleichen Gebäude. Ich denke, damit hätte man einigen Menschen ein verletztes Gemüt ersparen können.
Die «Postkarten»-Kirchen in Zürich sind allesamt reformiert. Die katholischen Kirchen sind nicht als Sehenswürdigkeiten bekannt. Was bedeutet das für ihre Zukunft?
Es wird für die katholische Kirche in Zürich sehr wichtig sein, sich auseinanderzusetzen, wie die Kirchen weiter genutzt werden sollen. Innenstadtkirchen werden oft als Orte der Stille für kurze Besuche für die Leute aus den Büros im Umkreis oder für die Touristen genutzt. In den Aussenquartieren funktioniert das kaum.
Im Kanton Zürich ist erst eine einzige ursprünglich katholische Kirche umgenutzt worden: St. Josef im Grafstal bei Illnau-Effretikon wird seit 2016 von der koptischen Kirche genutzt. Warum ist das hier noch kaum ein Thema?
Weil es noch die nötigen finanziellen Mittel gibt, und das hat eine Geschichte: In Zürich haben wir katholischerseits eine Diaspora-Kirche. Sie ist erst in den letzten 50 Jahren gross und relevant geworden. Vor allem durch die Migration hat sie sich rasant entwickelt, wo sie zuvor ein religiös-kultureller Outsider war. Durch die öffentlich-rechtliche Anerkennung wurde sie der reformierten Kirche gleichgestellt, und das wiederum garantiert die nötigen finanziellen Mittel bis heute. Die Kirchenräume wurden immer wieder durch neue, anderssprachige Gemeinschaften belebt – bis vor wenigen Jahren ging dieses Wachstum permanent weiter. Da ist die Frage nach Neu- und Umnutzung der Kirchen erst vor kurzem überhaupt ins Bewusstsein gerückt.
Welche Schritte wurden seither unternommen?
In der Stadt Zürich hat man 2013 zusammen mit der reformierten Kirche eine Studie zur Weiternutzung der 91 Kirchenräume in Auftrag gegeben.
Was ist aus dieser Studie geworden?
Es wurde darin vorgeschlagen, eine gemeinsame Sakralraumkommission zu gründen, was aber nicht realisiert wurde. Beide Kirchen in der Stadt haben aber hinsichtlich einer Gebäudestrategie etwas unternommen: Die Evangelisch-Reformierte Kirche unter der Bezeichnung «Leitbild Immobilien» und «Eckwerte Immobilien»; Katholisch Stadt Zürich im Rahmen des Prozesses «Katholisch Stadt Zürich 2030». Die katholischen Liegenschaften wurden im April 2020 in einem internen Arbeitspapier aufgenommen und bilden die Grundlage für eine langfristige Strategie, die auch die Finanzierung sicherstellen soll.
Zurück zum Kanton: Ein aktueller Legislaturschwerpunkt zwischen Zürcher Regierungsrat und den anerkannten Religionsgemeinschaften bezieht sich auf «Unterhalt und Nutzung von Gebäuden der kirchlichen Körperschaften und Religionsgemeinschaften». Was erwartet die Kirchen da?
Im Kantonsrat gab es einen Vorstoss: «Mehr Flexibilität für kirchliche Bauten». Geprüft werden sollen mögliche gesetzliche Änderungen, um den Kirchen Handlungsraum zu eröffnen für eine sachgerechte und sinnvolle Nutzung ihrer Liegenschaften – dabei sind auch Umnutzungen angesprochen. Sie sind aktuell von vielfältigen Beschränkungen betroffen, zum Beispiel von Regelungen des Denkmalschutzes. Auf diesen Vorstoss bereiten sich die Kirchen aktuell vor.
Müssen im Kanton Zürich erst grosse Geldquellen wegfallen, ehe man über die Weiternutzung der Kirchen nachdenkt?
Es wäre schade, wenn es man erst dann damit beginnen würde.
Was wäre daran schade?
Ich halte es für sinnvoll, frühzeitig an die Fragen heranzugehen. Jetzt ist es noch möglich zu gestalten, man hat die Fäden in der Hand und muss nicht unter Druck handeln. Ausserdem ist es immer ein Auftrag der Kirche, mit ihren Ressourcen zum Wohl der Gesellschaft beizutragen: gelebte Spiritualität ermöglichen, das kulturelle Erbe zum Blühen bringen und vor allem Diakonie fördern – dazu lassen sich die Immobilien in vielfältiger Weise nutzen.
Stellen sich für katholische Kirchen andere Fragen als für reformierte?
Durchaus. Reformierte Kirchen sind an manchen Orten tagsüber abgeschlossen. Solange das so ist, kommen Menschen im Quartier kaum auf die Idee, über eine öffentliche Nutzung des Raumes nachzudenken. Ein wesentlicher Unterschied ist aber die Wahrnehmung von Sakralität. Während reformiert geprägte Menschen oft weniger Probleme damit haben, in einer Kirche ein Café einzurichten oder auch mal Mittagstische dort abzuhalten, ist das für katholische bisweilen ein schwieriges Thema. Der Elefant im Raum ist der Umgang mit der Eucharistie. Viele vermeintlich modern eingestellt Katholiken gehen über die Präsenz von Altar und Tabernakel etwas hemdsärmlig drüber, lassen die Frage beiseite – und wundern sich dann, wenn es zu Protesten kommt.
Was braucht es, damit das nicht passiert?
Im Sammelband kommt eine Kunsthistorikerin zu Wort. Sie meint, Räume für Andacht, Spiritualität und Anbetung sollen auch solche bleiben dürfen. Ich plädiere dafür, die verschiedenen Traditionen ernst zu nehmen. Wer über eine Umnutzung kirchlicher Immobilien nachdenkt, kann auch bei anderen Räumen anfangen. Das Pfarrhaus oder das Gemeindehaus können zunächst als Kindergarten genutzt werden. Parallel dazu liessen sich in der Kirche allmählich andere Formen von Spiritualität ausprobieren, ehe man dann vielleicht auch grössere Konzerte oder Ausstellungen zulässt. Gerade bei Sakralräumen ist manchmal auch eine langsame Überführung hilfreich. Und zuletzt: Eine Kirche darf und kann für eine gewisse Zeit leer stehen. Wenn der Leerstand Ausdruck eines Innehaltens ist. Nicht, weil uns nichts mehr einfällt.
Hat Rom ein Wörtlein mitzureden?
Grundsätzlich müssen die Auszüge aus dem Codex Iuris Canonici beachtet werden, dass an einem «heiligen Ort» nur stattfinden darf, was der Förderung von Gottesdienst, Frömmigkeit und Gottesverehrung dient. Aber der Bischof kann sowohl einen anderen Gebrauch gestatten als auch eine Kirche für eine andere Nutzung freigeben. Rom überlässt diese Fragen den Ortskirchen, betont aber auch, dass sämtliche Gremien entsprechend einbezogen werden müssen.
Wer kann über die Nutzung oder Umnutzung einer Kirche entscheiden?
In letzter Verantwortung die Eigentümerschaft, wenn vorgängig die entsprechenden Gruppen und Gremien zugestimmt haben.
Was ist mit jenen, die vor Jahrzehnten vielleicht aus eigener Tasche zum Kirchenbau beigetragen haben und noch am Leben sind?
In Deutschland wurde dazu ein Manifest lanciert. «Kirchen sind Gemeingüter» heisst es und fordert eine breite Verantwortungsgemeinschaft. Aus einer solchen Überzeugung lässt sich ableiten, dass bei Entscheidungen über eine gravierende Neu- oder Umnutzung einer Kirche die Öffentlichkeit des jeweiligen Ortes – Nachbarschaft, Quartier, Stadtbevölkerung – wenigstens befragt werden müssten.
Wer hält in der Regel die Eigentümerschaft einer Kirche?
Das kann sehr unterschiedlich sein: die Kirchgemeinde, die Landeskirche, ein Kloster, eine Pfarrstiftung, vielleicht ein Verein. Bei historischen Bauten auch die Stadt oder der Kanton. Dazu spielt bei Entscheiden die kirchenrechtliche Seite natürlich auch immer eine Rolle, also die Vertretung des Bistums.
Wenn ich in einer Kirche aktiv bin und merke: Die Kirche wird immer leerer – wie soll das weitergehen? Kann ich mich dafür einsetzen, dass die Kirche eine Kirche bleibt?
Ja klar. Man kann Aktivistin werden, sich an eine Kirchenbank kleben und sagen: «Hier haben schon meine Grosseltern geheiratet – diese Kirche bleibt!» Aber man muss natürlich nicht so weit gehen. In der Schweiz kann man an der Kirchgemeindeversammlung auch einfach gegen eine Umnutzung stimmen – insofern sie mit Umbauten und Kosten verbunden ist –, und dann passiert erst einmal nichts. In Deutschland kann das ganz anders sein, da werden die Kirchgemeinden vor Ort nicht selten vor vollendete Tatsachen gestellt, weil zum Beispiel die evangelische Landeskirche entscheidet.
Mit einer Blockadehaltung übernimmt man aber weder Verantwortung für die kleiner werdenden finanziellen Ressourcen noch für den Leerstand des Gebäudes, der als Zeichen für Dekadenz und Niedergang gelesen werden kann.
Ich kann mich als Kirchgängerin hierzulande also darauf verlassen, dass ich informiert und gefragt werde, wenn meine Kirche umgenutzt werden soll?
Man muss wirklich keine Angst haben, dass man überrumpelt wird. Man wird informiert und gefragt, und das schon früh im Prozess. Im Bistum Basel und in St. Gallen war das jeweils so. Es gab und gibt regelmässig Vernehmlassungen.
Problematisch bleibt natürlich, dass diese Prozesse von den Menschen vor Ort nicht aktiv mitverfolgt werden, und wenn es dann spruchreif wird, gibt es einen Aufschrei. Aber auch das ist normal, und es muss von vornherein in den Prozess einer Umnutzung einkalkuliert werden.
Und was, wenn ich mich vor Ort selbst für eine gute Weiternutzung meiner Kirche engagieren will?
Dann wäre es sinnvoll, sich mit dem Pastoralteam zu unterhalten und zu fragen: Haben wir ein finanzielles Problem? Wie steht es um die Auslastung, nicht nur des Sakralraums bei den Gottesdiensten, sondern auch bei den anderen Immobilien? Welche Möglichkeiten sehen die Verantwortlichen? Welche Gruppen aus dem Quartier könnten wir bei uns beherbergen? – Denn wenn das Pfarreiareal an fünf von sieben Tagen gut bespielt wird, wer will dann so schnell kommen und von Verkauf reden? Und ein letzter Tipp: Bei der Denkmalpflege das Leid klagen und Verbündete suchen – dann gibt es womöglich einen Stopp etwaiger Umnutzungs-Überlegungen.

zvg
erschienen 2025
Edition NZN bei TVZ
ISBN 978-3-290-20267-5
Buchvernissage
Mi, 29. Oktober, 18.00 bis 19.30 Uhr,
Kirche Bruder Klaus, Milchbuckstrasse 73, Zürich
Anmeldung bis 23. Oktober
Das Sachbuch «KirchenRaum. Begegnung neu denken» ist das dritte in der Reihe Zürcher Zeitzeichen. Mit dieser Reihe in der Edition NZN bei TVZ setzt die Katholischen Kirche im Kanton Zürich jährlich einen thematischen Schwerpunkt und leistet damit einen Beitrag zu relevanten Themen an der Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft.
Welches Vorgehen empfehlen Sie Verantwortlichen, die merken, dass sie über eine Umnutzung nachdenken müssen?
Pastorale Verantwortliche können ein Konzept entwickeln und ein Ziel formulieren, zum Beispiel: In drei Jahren sind wir als Pfarrei die Hauptanlaufstelle für alle Menschen mit Fluchterfahrung aus der Stadt. Oder: Wir bauen unseren Kirchenraum zur Kinderkirche um, betreiben eine Buchtauschbörse und werden zentraler Ort für Familien mit Kleinkindern. Damit bringe ich wieder neue Menschen in die kirchlichen Räume.
Das heisst, ich überlege, welche Bedürfnisse es im Quartier gibt?
Genau: Was gibt es für Bedürfnisse und für Menschengruppen, und welche ihrer Anliegen entsprechen für mich am ehesten dem Evangelium?
Welche Aufgabe liegt beim Präsidium der Kirchenpflege?
Das Präsidium sollte Gespräche mit anderen Playern im Quartier suchen und die Vernetzung mit anderen Kirchen, sozialen Akteurinnen, Kulturanbietern und Beratungsstellen pflegen. Wenn es dann Raumbedarf gibt, ist man bereits vernetzt und kann zusammen überlegen, was sinnvoll ist. Ich würde Kirchenpflegepräsidentinnen und -präsidenten empfehlen, proaktiv auf die Quartier-Player zuzugehen und zu fragen: «Was sind Eure Immobilienprojekte und Bedürfnisse in den nächsten Jahren?»
Welche Fragen, die bei Umnutzungen auftauchen, müssen unbedingt vor Ort angeschaut werden?
Vor allem braucht es eine ehrliche Bestandsaufnahme: Wie ist die Pfarrei entstanden, die wir jetzt hier vor Ort haben? Ist ihre Geschichte zum Beispiel mit der Arbeiterschaft verknüpft? Leben hier noch Leute, die damals ihren letzten Rappen gegeben haben, um den neuen Beichtstuhl nach dem Konzil zu finanzieren? Wenn das so ist, dann braucht es einen gemeinsamen Weg – sonst gibt es Proteste. Denn selbst wenn die Menschen nicht mehr jeden Sonntag zur Kirche kommen oder ihre Nachfahren gar woanders wohnen, sind sie oft emotional mit diesem Kirchenbau verbunden.
Dann braucht es eine Analyse vom Profil der Gemeinde: Werden hier eher klassische katholischen Traditionen gepflegt, ist man gewohnt, unter der Woche Eucharistie zu feiern, hat man sich schon mit anderen Gottesdienstformen auseinandergesetzt? Wie ticken die Menschen hier – und wie könnte das in zehn Jahren aussehen?
Schliesslich spielt der Charakter des Quartiers eine Rolle: Kann die Kirche zum Zentrum für mehrere anderssprachige Gruppen werden, ist Ökumene schon selbstverständlich? Wenn eigentlich schon alles – von Jugendarbeit über Singprojekte bis zu den Gottesdiensten im Altersheim – ökumenisch läuft, ist eine gemeinsame, das heisst paritätische Nutzung des Kirchenraums schon viel naheliegender.
Werden uns schlussendlich noch die Kirchenräume, die zu gross und zu teuer werden, als Kirchen und als Menschen endlich näher rücken lassen?
Ja, das ist sicher an vielen Orten möglich und wird wohl auch so geschehen. Allerdings darf man nicht erwarten, dass das konfliktfrei verlaufen wird.
Wie zukunftsfit nehmen Sie Kirchenleitungen und Verantwortliche in diesen Fragen wahr?
Das Wissen und die Erfahrung haben mich überrascht. Es ist unglaublich viel da. Man kann auch von anderen Ländern lernen, da ist man zum Teil schon viel weiter.
Wie stehen die Bischöfe zu Fragen der Kirchenumnutzung?
Die Bischofskonferenz hat jüngst eine Handreichung herausgegeben, in der sich hilfreiche und taugliche Hinweise samt Empfehlungen finden. Die Bischöfe sehen sich da aber nicht hauptsächlich in der Verantwortung. Wenn es konkret um einen Umbau geht, haben sie Fachpersonen, die sich an den Prozessen beteiligen. Falls es bis zu einer Profanierung kommt, muss der Bischof diese genehmigen. Die Handreichung der Bischofskonferenz zielt stärker auf die pastorale Begleitung in diesem Prozess.
Bei Kirchenumnutzungen spielen verschiedene Akteure zusammen, von Kirchenleitungen über Stadtplanerinnen, die Architektur, der Denkmalschutz und manche andere. Gibt es in der Schweiz oder regional Austausch dazu?
Der Schweizerische Städteverband kennt offensichtlich keine Vernetzung oder Austausch. Mag sein, dass es im Bereich Denkmalpflege anders ist. Innerkirchlich-ökumenisch gibt es den Schweizer Kirchenbautag, der Tagungen durchführt, Publikationen anbietet und eine Datenbank pflegt, die über alle Um- und Neunutzungen von Kirchen in der Schweiz Auskunft gibt. Dieser ist die Adresse Nummer eins für alle derartigen Fragen. Auch die Schweizerische Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche würde ich empfehlen.
Es heisst immer wieder, Kirchenräume sollten «für alle geöffnet» werden. Sind sie dann nicht einfach Mehrzweckräume wie viele andere?
Was soll das genau bedeuten: «für alle geöffnet»? Eine katholische Kirche ist ja im Regelfall tagsüber offen, jeder darf rein, es gibt keine Einlasskontrolle oder Tickets. Meint man damit, dass die Kirchenräume atmosphärisch und symbolisch eine andere Ausstrahlung gewinnen sollen? Für das Buchprojekt habe ich mit einer Kunsthistorikerin gesprochen, die überzeugt ist, dass es im Theologiestudium Crashkurse in Sakralraumpädagogik mit kunstgeschichtlicher Expertise braucht. Jene Menschen, die eine Kirche bewirtschaften, müssen eine Idee davon haben, wie diese Kirche auf andere wirkt, und wie sich diese Wirkung theologisch nutzen und vermitteln lässt.
Persönlich würde ich mir wünschen, dass es weiterhin Kirchen gäbe, die ihre christliche und katholische Symbolik behalten und diese auch aktiv vermittelt würden. Und dass es gleichzeitig auch Kirchen gäbe, die ganz niederschwellig ohne Vorwissen als wohltuende Orte erfahren werden können.
In Deutschland, Frankreich, Belgien, in Grossbritannien und den USA – an anderen Orten werden Kirchen seit längerem umgenutzt. Was können wir in der Schweiz lernen?
Einiges, und zwar in beide Richtungen. Es gibt abschreckende Beispiele aus Frankreich oder England, wo einzelne Kirchen heute als Einkaufszentren genutzt werden. Innerhalb kürzester Zeit ist die sakrale Ausstrahlung verschwunden. Anders bei diesem Beispiel: In der Kirche St. Maria Empfängnis in Neersen in Nordrhein-Westfalen wurden der liturgische Bereich verkleinert – und dort in Partnerschaft mit der Caritas Räume für eine öffentliche Bücherei, eine Kleiderkammer, eine Küche und das Gemeindebüro mit Archiv eingerichtet. Wunderbar, wenn liturgische und diakonische Aufgaben im gleichen Raum erfüllt werden und Begegnungen gelingen können.

Sabine Zgraggen
Zur Fotografie
Sabine Zgraggen (*1969) fährt viel umher und entdeckt dabei unter anderem Kirchenräume. Sie fotografiert seit ihrer Jugend, was ein Hobby und eine Leidenschaft von ihr ist. Licht und Raum, spirituelle Dimensionen möchte sie sichtbar machen. Die Theologin und Pflegeexpertin leitet die Fachstelle für Spital- und Klinikseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.