Gott an der Seite der Armen

Die Befreiungstheologie wurde von Vertretern der Amtskirche lange bekämpft. Wie sieht es heute aus? Ein Besuch in einer Basisgemeinde in Lateinamerika, in Santiago de Chile.

Gottesdienst ist ein Miteinander auf Augenhöhe. Im Hintergrund die Wandbilder, die die biblische Botschaft mit dem Leben der Menschen verbinden.

Sonntag, 10 Uhr morgens, pünktlich zum Gottesdienst läutet Pfarrer Alejandro Fabres die Glocken der kleinen Kapelle Nuestra Señora de la Paz in der Gemeinde Cerro Navia in Santiago de Chile. Der gross gewachsene Mann sticht unter den rund 20 älteren Kirchgängerinnen und Kirchgängern hervor. Erst seit kurzer Zeit predigt der Pfarrer in der Kapelle. Zuerst ordnet Fabres die Stühle neu und lässt die kleine Gruppe in einem Halbkreis um den Altar Platz nehmen – was die Gemeindemitglieder sichtlich freut. Fabres knüpft damit an eine alte Tradition der christlichen Basisgemeinde an: Gemeinschaft und flache Hierarchien werden hier geschätzt. Und Jesus gilt als Befreier der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Armen der Welt. Pfarrer Fabres sagt: «Gott setzt Prioritäten, und diese sind hier zu finden.» Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten schwingt damit der Pfarrer auf der gleichen Wellenlänge wie die Gemeinde.

Unterwegs in der Umgebung: Wandgemälde prägen die Strassen rund um die Kapelle Nuestra Señora de la Paz. Sie erzählen von Fussball, aber auch von der zwischen 1973 und 1990 herrschenden Militärdiktatur in Chile. Bilder von ermordeten Bewohnerinnen und Bewohnern des Viertels blicken auf die Passanten, die achtlos vorübergehen. Hin und wieder erscheint auch ein Gemälde des jungen irischen Priesters Liam Holohan, der ab 1981 die Kapelle leitete und nach dem mittlerweile eine Strasse benannt ist.

Das Ehepaar Paola Horta und José Luis González sitzt an seinem Küchentisch. An ihrer Hauswand vergilbt im Sonnenlicht eine aufgemalte Fahne der indigenen Mapuche. Den Ureinwohnern Chiles fühlen sich viele Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels zugehörig. Das Ehepaar in seinen Fünfzigern leitet gemeinsam die Jugendpastoral. Horta grinst und sagt etwas wehmütig: «Wir sind die junge Generation in der Basisgemeinde.» Sie stiessen als Kinder in den 1980er-Jahren zur Gemeinde. Damals lebte gut die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die neoliberalen Reformen der Diktatur führten zu Massenarbeitslosigkeit in den Armenvierteln am Rande der Stadt. Gegen Proteste ging das Militär mit brutaler Gewalt vor. González erklärt: «In der Gemeinde fühlten wir uns geborgen.» Hier organisierten Mitglieder Suppenküchen und gemeinschaftliche Aktivitäten. «Liam hat uns beigebracht, was Befreiungstheologie bedeutet», erinnert sich Paola Horta an den irischen Priester. Er war ein Genosse, und die Kirche war auf den Kampf gegen die Militärdiktatur ausgerichtet. «Ich habe mich wertgeschätzt gefühlt. Uns Armen wird immer erzählt, wir seien zu dumm für ein Studium. In der Kapelle habe ich gelernt, dass wir schlau sind. Und dass die soziale Ungerechtigkeit schuld daran ist, dass wir nicht an die Universität können.» Die Kirche habe sie als Bewohnerin eines Armenviertels emanzipiert.

Paola Horta trägt seit den 1980er Jahren die Gemeinde mit. Sie hat den Kampf gegen die Militärdiktatur erlebt, auch die folgenreiche Kritik an der Befreiungstheologie. Aktuell leitet sie mit ihrem Mann die Jugendpastoral.

Gottesdienst in der Kapelle Nuestra Señora de la Paz. Auf den Bildern Pater Liam Holohan (links) und der Heilige Alberto Hurtado (rechts).

Pfarrer Fabres mit einer Stola aus einem Aguayo-Stoff mit traditionellen Mustern.

Auf der anderen Seite der Hauptstadt Santiago arbeitet der Historiker Stephan Ruderer inmitten der Parkanlage des Campus der «Pontificia Universidad Católica de Chile», der katholischen Universität in Chile. Ruderer forscht zur Befreiungstheologie und weiss von deren Boom in den 1980er-Jahren. Die theologischen Aussagen des Gründers Gustavo Gutiérrez hielten in Chile deutlich später Einzug ins religiös-politische Leben als in anderen Ländern Lateinamerikas. «Die Befreiungstheologie bot eine Basis für Priester und Nonnen, um den Opfern der Diktatur zu helfen.» Die ursprünglich auf der zweiten Bischofskonferenz Lateinamerikas 1968 in Medellín erwähnte Option für die Armen wurde neu interpretiert, meint Ruderer. «Die ‹Armen› waren fortan nicht mehr nur materiell Bedürftige, sondern auch alle Opfer von Verfolgung durch die Diktatur.»

Insbesondere Basisgemeinden boten der Opposition Schutzräume zur Organisation. «Die Kirche war die letzte öffent­liche Institution, die sich offen gegen die Diktatur stellen konnte», so der Histo­riker. Politische und religiöse Motive verschwammen im Widerstand. Der bis heute wichtigste Akteur ist das «Vikariat der Solidarität», eine katholische Menschenrechtsorganisation, die von Papst Paul VI. gegründet wurde und Opfer der Militärdiktatur unterstützte. Ruderer glaubt, dass die damalige prekäre Lebenssituation und die krasse soziale Ungleichheit viele Priester und Nonnen radikalisierten. «Viele kamen von ausserhalb, sahen die Armut und gleichzeitig die Beispiele von Kuba bis Nicaragua. Ihre Schlussfolgerung war: Eine sozialistische Revolution ist nicht nur nötig, sondern auch möglich.» Viele befreiungstheologische Basisgemeinden entschieden sich jedoch für passiven Widerstand. Sie wollten dem Regime ohne Gewalt entgegentreten.

Auch Pfarrer Fabres, der neue Priester in der Kapelle Nuestra Señora de la Paz, war in einem Armenviertel aufgewachsen und als Jugendlicher gegen die Diktatur aktiv. Seine Grossmutter zog ihn katholisch auf, doch er wandte sich zunächst vom Glauben ab. «Wie kann Gott so etwas wie die Diktatur zulassen?», fragte er sich. Nachdem er von der Geheimpolizei festgenommen worden war, fand er Hilfe in den Basisgemeinden und beim «Vikariat der Solidarität». «Ich habe dann verstanden, dass uns Gott die Verantwortung überträgt», meint Fabres. «Er fragt uns: Was unternehmen wir für unsere Brüder und Schwestern? Wie können wir dem Volk Hoffnung geben?» Denn auch in den schlimmsten Zeiten müsse man eine Perspektive des Wandels finden. Sonst bestehe die Gefahr, in teils sinnloser Gewalt zu enden.

Während seiner Predigt erzählt er von seinem jüngsten Erlebnis. Ein jüngerer Kollege lud ihn ein, gemeinsam zu einer Pride-Veranstaltung zu gehen und dort Menschen zu segnen. Tausende waren auf den Strassen. «Die Menschen kamen zu uns und waren unheimlich dankbar», erinnert sich Fabres. Endlich würden kirchliche Vertreter sie wahrnehmen und wertschätzen. Im Gegensatz zu dogmatischen Thesen erlaube die Befreiungstheologie laut Fabres, theologische Beiträge und sogar die Bibel anhand der heutigen Wirklichkeit zu interpretieren. Übersetzt auf die Gegenwart müsse man etwa zur LGBTQ-Gemeinschaft stehen. Ein Kirchgänger ergänzt den Pfarrer: «Ja, aber auch zu den Mapuche.»

Die Kirche muss ein Teil
der Armen werden.

Später im Pfarrhaus erzählt der Priester, dass eine seiner wichtigsten biblischen Grundlagen die wundersame Brotvermehrung sei. Sie zeige den Blick Jesu auf die Ärmsten und unterstreiche die Bedeutung von Solidarität. Fabres spricht auch vom «Wunder der Solidarität». Der Beistand für die Armen reicht ihm dabei nicht aus. «Die Kirche muss mit den Armen mitlaufen, sie unterstützen und ein Teil von ihnen werden», ist der Priester überzeugt. Die politische Perspektive eines gesellschaftlichen Wandels ist dabei fundamental: «Jesus Christus wird im Teilen und im Kampf für die Armen zu Fleisch», erklärt er. Das sei der grosse Unterschied zum konservativen Glauben, der sein Himmelreich vor allem in der individuellen Spiritualität finde. 

Pfarrer Alejandro Fabres an der Karfreitagsprozession. Sie führt zu Häusern, in denen jemand krank ist, und zu Orten, an denen Menschen Opfer der Diktatur wurden.

Der Karfreitagsumzug hält bei einem Banner. Es fragt nach Julia Chuñil, einer Mapuche, die seit November 2024 verschollenen ist.

Haltepunkt des Karfreitagsumzug, um für eine erkrankte Nachbarin zu beten.

Pfarrer Fabres hat erlebt, wie ihn seine Überzeugung mehrfach seinen Posten gekostet hat. Als ihn sein Orden, die Kongregation der Vinzentiner, an eine neue Stelle versetzte, führte er dies darauf zurück, dass er Kinderarbeit in Lachsfarmen öffentlich angeprangert hatte. «Als Befreiungstheologe fühlt man sich selbst innerhalb der Kongregation als Aussenseiter», bemängelt er. Doch er sieht Hoffnung: Mit Papst Franziskus sei die Befreiungstheologie rehabilitiert worden. «Unsere Texte durften wieder im Priesterseminar gelesen werden», zeigt sich Fabres glücklich. Ein wichtiger Schritt war die Heiligsprechung des 1979 ermordeten Erzbischofs von El Salvador, Óscar Romero, durch den Papst im Jahr 2018. Fabres hofft, dass Papst Leo XIV. diesen Weg fortsetzen werde.

Der konservative Kurs der letzten Jahrzehnte in der katholischen Kirche vor Papst Franziskus hat auch die Gemeinschaft in der Kapelle Nuestra Señora de la Paz verändert. Das Ehepaar Horta und González erzählt, dass der Erzbischof von Santiago im Jahr 1991 Pater Liam untersagte, nach einem Heimatbesuch in Irland nach Chile zurückzukehren. Der widerständige Teil der Kirche war nach der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 nicht mehr erwünscht. Die von Papst Johannes Paul II. eingesetzten Bischöfe vollzogen in ganz Lateinamerika eine grundlegende Kehrtwende. Wenig später erschütterten Missbrauchsskandale das damals noch streng katholische Chile. Auch Pfarrer, die der Befreiungstheologie nahestanden, waren unter den Tätern. Die katholische Kirche verlor an öffentlichem Ansehen, infolgedessen leerten sich die Gottesdienste. Während sich laut Umfragen im Jahr 2007 noch 73 Prozent der Menschen als katholisch bezeichneten, waren es zehn Jahre später noch 43 Prozent.

In der Kapelle Nuestra Señora de la Paz gaben sich seit dem erzwungenen Abgang von Pfarrer Liam immer wieder neue Pfarrer die Klinke in die Hand. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung gegenüber der politischen Ausrichtung der Gemeinde. Horta erzählt: «Als wir in unserer Jugendarbeit auch politische Themen ansprechen wollten, stellte uns ein Pfarrer vor die Wahl: Entweder wir halten uns an die Vorgaben von oben – oder wir gehen.» Das Paar verliess daraufhin für mehrere Jahre die Gemeinde. Doch die verbleibenden Mitglieder hielten an ihrer Tradition fest. Einmal verhinderten sie, dass ein Pfarrer die Wandmalereien in der Kirche überstreichen liess. Das schuf Autonomie, meint González: «Wir sind es mittlerweile gewohnt, dass die Pfarrer kommen und gehen.» Die Beständigkeit wird durch die Gemeindemitglieder gesichert, die notfalls auch selbst den Gottesdienst gestalten.

Auch wenn sie nun glücklich darüber sind, mit dem neuen Pfarrer auf einer Wellenlänge zu sein, hat sich ein Punkt verändert: «Wir haben Jahrzehnte der Erfahrung. Wenn neue Pfarrer kommen, sollten sie auf unser Wissen aufbauen, anstatt das Rad neu zu erfinden», erklärt Horta. Zu häufig würden selbst befreiungstheologische Pfarrer diese Kompetenzen der Gemeindemitglieder nicht anerkennen. Horta glaubt zudem, dass die Kirche zu wenig in kleine Gemeinden investiert: «Ich habe das Gefühl, dass Geld und Ressourcen vor allem an jene Kirchen gehen, die besonders viele Mitglieder haben. Dabei sollten sie gerade uns als kleine und arme Gemeinde unterstützen.» Die Kirche spiegele die Ungleichheit in der Gesellschaft wider. 

Pfarrer Fabres meint, dass sich die Befreiungstheologie an aktuelle Herausforderungen anpassen kann: «Vor 40 Jahren war unser grösstes Bedürfnis, die Diktatur zu beenden. Heute haben wir Angst um die Zukunft des Planeten. Denn am Ende sind auch bei Umweltkatastrophen die Ärmsten am stärksten betroffen», so der Pfarrer. Bleibt nur noch offen, wie man neue Generationen für sich gewinnen kann. «Mit der Rückgewinnung von Vertrauen», erklärt Fabres, «durch Selbstkritik und das positive Beispiel.»

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