Was ist die Befreiungstheologie?

Hat sie auch Spuren in der Schweiz hinterlassen? Eine Suche mit den beiden Theologen Josef Estermann und Urs Häner.

Josef Estermann und Urs Häner vor einem Plakat mit Óscar Romero im langjährigen RomeroHaus.
Der langjährige Leiter des RomeroHauses Luzern, Josef Estermann (links) und der Theologe Urs Häner, vor einem Plakat von Óscar Romero mit seiner Aussage: «Mich kann man töten, nicht aber die Stimme der Gerechtigkeit». Spuren der Befreiungstheologie sind im RomeroHaus sichtbar, auch wenn es heute als Seminarhotel geführt wird.

Es ist nicht von Gott gegeben, dass gewisse Menschen Macht und Geld haben und damit über andere herrschen. Es ist ebenso wenig von Gott gewollt, dass andere leiden, beherrscht werden und kein gutes Leben führen können. Diese Überzeugung steht im Kern der Befreiungstheologie. Sie mag zunächst einfach klingen, selbstverständlich ist sie keineswegs. Bis heute nicht. In ihr steckt das Potential, Menschen dazu zu ermutigen, bestehende Verhältnisse zu verändern. Denn wer zur Überzeugung gelangt, dass die Mächtigen ihre Macht nicht von Gott haben, dass im Gegenteil Gott gerade an der Seite jener steht, die entrechtet sind, gewinnt Hoffnung. Oder bekommt Angst. Die Befreiungstheologie wurde immer auch bekämpft und an den Rand gedrängt, nicht zuletzt von Teilen des Klerus der römisch-katholischen Kirche.

Urs Häner und Josef Estermann sind zwei Schweizer Theologen, deren Leben und Arbeiten von der Befreiungstheologie geprägt sind. Und deren Wege ganz unterschiedlich verlaufen sind: Urs Häner, heute 69-jährig, entscheidet sich damals nach dem Studium gegen die Weihe zum Priester und auch gegen eine Anstellung in der Kirche, stattdessen geht er in die Lohnarbeit als Druckereiarbeiter und engagiert sich gewerkschaftlich. Er wohnt im Luzerner Untergrundquartier, macht über Jahre kontinuierlich Quartierentwicklung vor Ort im Arbeiterinnen- und Arbeiterbezirk. Josef Estermann, ebenfalls 69, geht nach den Studien nach Südamerika, lebt jahrelang in Peru und dann in Bolivien, engagiert sich dort mit Menschen in den Basisgemeinden, forscht, lehrt und schreibt. Später leitet er das Missionswissenschaftliche Institut in Aachen, wird dann in Luzern Leiter des RomeroHauses – einem Ort, der in der Schweiz wie kein anderer für die Befreiungstheologie steht.

Diese beiden Wege, so kurz und knapp umrissen, mögen etwas erahnen lassen von der Vielschichtigkeit der befreiungstheologischen Bewegungen – Bewegungen, die gleichzeitig noch um ein vielfaches vielschichtiger sind. Sie spannen sich um den Globus und sind doch immer regional verankert, auch in der Schweiz. Feministische, ökologische, queere Anliegen sind über die Jahre in sie eingeflossen, es gibt indigene Strömungen verschiedener Art und Ausprägungen in den jeweiligen Weltgegenden, in Südamerika, Europa, auf dem afrikanischen Kontinent und in Asien. Da sind grosse Namen wie Gustavo Gutiérrez, dessen Buch «Teología de la liberación» von 1971 als ein Anfang gilt – zu Unrecht, hatte doch der lutherische Theologe Rubem Azevedo Alves den Begriff der Befreiungstheologie bereits 1968 eingeführt. Oder Namen wie Óscar Romero und Hélder Câmara, die beiden südamerikanischen Erzbischöfe, die in den Militärdiktaturen ihr Leben riskierten, um an der Seite der Menschen zu bleiben. Leonardo Boff, der auch öfters die Schweiz besuchte, Dorothee Sölle als evangelische Theologin und politische Poetin, oder Erwin Kräutler, langjähriger Bischof von Altamira in Brasilien und bis heute aktiv für die Rechte der Schöpfung und ihrer Menschen darin.

Josef Estermann

Josef Estermann (*1956) ist international anerkannt für seine Expertise der Kulturen, Philosophien und Religionen in den Anden Südamerikas.

Josef Estermann sieht in der Befreiungstheologie «vor allem eine Haltung», spezifischer noch eine «theologische Haltung und eine theologische Art, zu denken, wahrzunehmen, zu handeln». Sie sei getrieben von einer «radikalen Gesellschaftskritik an politischen und wirtschaftlichen Systemen, die Armut hervorbringen» und müsse immer wieder neu in die Herausforderungen hinein buchstabiert werden. Gegenwärtig seien das «die Bedingungen des Klimawandels, der weltweiten Aufrüstung und der riesigen sozialen Ungleichheit auf der Welt». Seine Arbeit und seinen Einsatz versteht er als «missionarische Präsenz», die von einer klaren Haltung ausgeht: «Was wir sind, sagt mehr, als was wir sagen.» Urs Häner ergänzt hier eine Überzeugung aus der Bewegung der Arbeiterpriester, die ihn seit je inspiriert: «Lebe so, dass du gefragt wirst.» Für ihn heisst das, «selber den Blickwinkel von unten und vom äusseren Rand einzunehmen und, wann immer es möglich ist, meine eigenen Füsse dorthin zu stellen. Wirklich den Ort zu wechseln». Es gehe nicht darum, «über den Graben» zu den anderen hinüberzurufen, sondern selbst über den Graben zu gehen. Das sei für ihn auch die «Option für die Armen», die zu den zentralen befreiungstheologischen Prinzipien zählt. Josef Estermann führt diese Option weiter aus: «Gott optiert für die Armen und daraus folgt der Imperativ, dass auch ich mich an deren Seite stelle.» Wer diese «Armen» seien – dass Armut nicht auf materielle Fragen beschränkt bleiben dürfe – ob Armut überhaupt ein treffender Begriff sei – all dies wurde und wird in der Befreiungstheologie intensiv diskutiert.

Urs Häner

Urs Häner (*1956) erhielt 2017 die Ehrennadel der Stadt Luzern für seine jahrzehntelange ehrenamtliche Arbeit in der Quartierentwicklung.

Hat die Befreiungstheologie auch in der Schweiz Spuren hinterlassen? Sie hat. Urs Häner sagt zunächst vorsichtig: «Ich würde die Spurenelemente an den Basisbewegungen und an ihren Kreuzungspunkten festmachen», und schiebt nach, dass es hilfreich wäre, «eine Landkarte zu erstellen mit diesen Spurenelementen und mit ihren Kreuzungsstellen». Gar nicht so einfach sei es, konkrete Spuren zu benennen, und dann gäbe es sie natürlich doch. Beispiele: das Engagement für die Konzernverantwortungsinitiative im Jahr 2020, in dem sich viele, auch kirchliche Bewegungen solidarisiert hätten; oder die Migrationscharta, in der 2015 Grundsätze einer neuen Migrationspolitik aus biblisch-theologischer Perspektive formuliert wurden.

Beide Theologen erzählen von verschiedenen Orten, Gruppierungen und Initiativen: die Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung, kurz TheBe, in der sich seit den 1980er Jahren Menschen miteinander vernetzen – Theologinnen und Theologen auch, aber nicht nur. Zu einer ihrer Arbeitsgruppen, den «Wärchtigschristinne und -christe» gehört Urs Häner bis heute: «Werktagschristlich» möchte man unterwegs sein, «die täglichen Kämpfe im Kapitalismus des Nordens» mittragen. Dann gibt es da die Religiös-Sozialistische Vereinigung, die Zeitschrift «Neue Wege», den Genossenschaftsverlag Edition Exodus, der Literatur auflegt und vertreibt, universitäre Studiengänge, und die Zeitschrift «Orientierung», die bis 2009 erschien. Das RomeroHaus, das auf Initiative der Missionsgesellschaft Bethlehem Immensee entstand, und das den Austausch ermöglichte zwischen Strömungen der Befreiungstheologie weltweit.

Das «Denkmal Óscar A. Romero» des Zürcher Bildhauers Josef Wyss (1922-2005) entstand 1985, kurz vor der Eröffnung des RomeroHauses im Jahr 1986.

Das «Denkmal Óscar A. Romero» des Zürcher Bildhauers Josef Wyss (1922-2005) entstand 1985, kurz vor der Eröffnung des RomeroHauses im Jahr 1986.

Immer wieder habe man sich über die Landesgrenzen hinaus engagiert und solidarisiert, etwa mit der Antiapartheidsbewegung in Südafrika, mit dem Kampf gegen Diktaturen in südamerikanischen Ländern, nicht zuletzt auch mit den Frauenbewegungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Man füge sich ein in Solidaritätsbemühungen, erzählt Urs Häner, «der christliche Teil ist immer nur eine Teilmenge». Josef Estermann resümiert: «Es war ein kräftiger Fluss, der hunderte von Menschen angesprochen und mitgezogen hat.»

Heute ist die Bewegung älter geworden. Tatsächlich wird immer wieder die Frage gestellt, ob es die Befreiungstheologie überhaupt noch gibt. Es gibt sie, ihre Prinzipien und Überlegungen, ihre Haltungen und Erfahrungen – frei zugänglich einer neuen Generation. Die sie angesichts der globalen Herausforderungen rund um die Fragen nach Herrschaft und Befreiung gut gebrauchen könnte.

Cover «Herrschaft und Befreiung. Fünfzig Jahre Befreiungstheologie - eine Bestandesaufnahme» von Josef Estermann.

erschienen 2025
in der Edition Exodus
ISBN 978-3-907386-04-0

aus dem Fazit des Autors:
«Inzwischen bin ich überzeugt, dass die Befreiungstheologie weder tot noch totgesagt, sondern lebendig und bunt, vielfältig und herausfordernd, vor allem aber nötiger denn je ist. Ob sie als solche auch benannt wird, ist nicht wichtig. Entscheidend ist die befreiende Botschaft: Eine andere Welt ist möglich!»

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