Als die Benediktinerin Hildegard 42 Jahre alt ist, hat sie eine Vision: Gott will, dass sie ihr Wissen aufschreibt. Sie tut es nicht – aus Demut, wie es sich für eine Nonne gehört. Oder kokettiert sie nur? Sie meint nämlich, sie mache sich damit als Frau doch nur lächerlich gegenüber den Mönchen. Sie weigert sich weiter. Immer schon war sie kränklich gewesen, nun aber wird sie von einer Lähmung befallen. Sie deutet diese als Mahnung Gottes, beugt sich, beginnt zu schreiben – und wird augenblicklich gesund.
Hildegard war eine prophetische Seherin und begnadete Autorin in einer Zeit, in der Frauen kaum Bildung genossen. Dass die Benediktinerin noch zu Lebzeiten einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden und der Papst an der Trierer Synode aus ihren Schriften vorlesen würde, war unglaublich.
Visionen hat Hildegard schon als Kind. Sie ereignen sich aber nicht wie bei anderen Mystikerinnen und Mystikern im Zustand der Ekstase: In einem «lebendigen Licht» sieht Hildegard Ereignisse und Erkenntnisse und begreift mit einem Mal, was sie bedeuten, womit sie zusammenhängen oder worauf sie Antwort geben. Sie erlebt ihre Visionen als echtes Sehen, doch ihre Schau ist innerlich, denn ihr Umfeld nimmt davon nichts wahr. Auch die Texte und Melodien ihrer Lieder sind die Frucht dieses inneren «Schauens». Diese geistige Schau hält Hildegard für eine Gottesgabe, sich selbst redet sie dabei klein: Sie, die «armselige, erbärmliche Frau», sei nur die «Posaune Gottes»; was sie sage, stamme nicht von ihr, sondern von Gott.

Agata Marszałek
«Die ganze Grünkraft sammle ich sanft in meinem Innersten ein,
indem ich alle Werke Gottes lobe.»
Hildegard von Bingen. (1098–1179)
Neben der inneren Schau hatte sie auch offene Augen für die «reale Schau» der Welt. Dank ihrer analytischen Begabung begreift sie, wie der Mensch, die Natur, ja der ganze Kosmos organisiert sind: Glieder und Organe des Menschen sind abhängig voneinander, erst im Zusammenspiel entsteht ein Körper. So ist der Mensch Abbild der Dreifaltigkeit Gottes, die durch das Zusammenspiel eine Einheit bildet. Selbst die ganze Welt nimmt sie wahr als Konzert von gegensätzlichen und sich ergänzenden Kräften und Vorgängen, die sich ausgleichen. Diese Einheit werde bewirkt von der «Viriditas», der «Grünkraft» – ein modern klingendes Wort, mit dem sie den Geist Gottes anschaulich machen will, der in allem Lebenden wohnt und als ordnende Kraft hinter der Schöpfung steht. Werde die Ordnung verletzt und Gottes Willen nicht entsprochen, fehle die Grünkraft, und die Natur oder der Mensch geraten aus dem Gleichgewicht: Den Pflanzen sei das anzusehen, wenn sie gelb und dürr werden; der Körper werde krank. Auch die Sünde zerstöre das natürliche Gleichgewicht. Hildegard scheint wie getrieben vom Gedanken, Gottes Willen möglichst vollständig zu erfüllen, auch wenn sie weiss, dass es nie gelingen kann.
Das Prinzip des Gleichmasses und der ausgleichenden Kräfte übernimmt Hildegard auch in einer Schrift über Ethik, in der sie richtig und falsch nicht wie schwarz und weiss darstellt, sondern das rechte Mass herausarbeitet. In der Medizin bildet das Gleichmass sogar das Zentrum: Sie kombiniert die Verpflichtung der Benediktsregel, für körperliches und seelisches Heil zu sorgen, mit ihren Naturbeobachtungen und dem damals bekannten Wissen. Die Heilmittel aus der Natur hält sie als von Gott verordnet: Sie wirken aber nur, ist sie überzeugt, wenn die Dosis und die Kombination mit Speisen stimmt – und Gott es will. So entwickelt sie eine Medizin-Theologie, die auf der Einheit von Körper und Seele beruht, die durch gesundes Mittelmass und Ausgeglichenheit gestärkt wird. Das schliesst auch die Ernährung und den Umgang mit Nahrungsmitteln ein.
Hildegard konnte sich durchsetzen: Als der Frauenkonvent, dem sie vorsteht, derart wächst, dass der Platz neben dem Männerkloster Disibodenberg oberhalb der Nahe nicht mehr ausreicht, plant sie – wieder auf eine Vision Gottes hin – einen Tagesmarsch entfernt auf dem Rupertsberg bei Bingen ein neues Kloster. Doch ihr Abt untersagt den Umzug. Wieder wird sie krank – bis der Abt es erlaubt. Hildegard deutete Krankheitsschübe als erzieherisches Mittel Gottes, um seine Aufträge durchzusetzen. Jahre später lässt sie einen jungen Adligen auf dem Klosterfriedhof begraben, der zeitweilig exkommuniziert war. Ein Prälat in Mainz ordnet deshalb an, den Leichnam umzubetten. Um dies zu verhindern, verwischt Hildegard die Spuren des Grabes im Boden. Nach langem Hin und Her erreicht sie erst durch einen Brief an den Papst, dass ihre Entscheidung akzeptiert wird – und sich der Mainzer Bischof bei ihr entschuldigt.
Mit gut 60 Jahren startet Hildegard vier Predigtreisen. Vor Volk und Klerus prangert sie Missstände in der Gesellschaft an und beklagt den moralischen Verfall bei Priestern wie Bischöfen. Doch nicht nur in der Öffentlichkeit, auch in den hunderten teilweise sehr persönlich gehaltenen Briefen an Äbte, Bischöfe und Priester, Papst und Kaiser zeigt sich Hildegard als strenge moralische Instanz, aber auch als demütige Bittstellerin, kluge Ratgeberin und Diplomatin. Heiliggesprochen wurde sie nie. Dennoch wurde sie 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben.
Die Schriften Hildegards stehen in der Jesuitenbibliothek Zürich bereit:
jesuitenbibliothek.ch