Zuerst zu Wort kamen die Präventionsfachfrauen Dolores Waser Balmer vom Bistum Chur sowie Sabine Scheuter von der evangelisch-reformierten Kirche Zürich. Sie referierten den Stand der Dinge bei Schutzkonzepten in ihrer Kirche und erzählten aus der Praxis ihrer Arbeit. Aus der Sammlung von Beispielen, die Dolores Waser Balmer in ihren Präventionsveranstaltungen im Bistum Chur bespricht: «Weil ich heute Geburtstag habe, gibt es jetzt einen Kuss» - eine Aufforderung an eine Frau, die als Freiwillige Geburtstagsbesuche machte. Hier gehe darum, über ungute Beziehungssituationen sprechen zu lernen und die Teilnehmenden für die gesunden Aspekte einer Beziehung zu sensibilisieren, sagt die Fachfrau.
Seit der Einführung des Verhaltenskodex im Bistum Chur im Jahr 2022 werden in Pastoralräumen und Gremien im Bistum Chur Schutzkonzepte entwickelt. Die Entwicklung dieser Konzepte und das Darüber nachdenken helfen der Prävention, sagt Waser Balmer, denn Schutzkonzepte würden am effektivsten von den Menschen umgesetzt, die an der Erarbeitung beteiligt gewesen seien. «Prävention ist nie abgeschlossen, sondern muss ständig angepasst werden.»
Die Veranstaltung «Gemeinsam gegen Missbrauch. Ökumenische Perspektiven für wirksame Schutzkonzepte» wurde veranstaltet vom Forum Magazin zusammen mit der Paulus Akademie Zürich. Seit der Veröffentlichung der Vorstudie zu Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz im September 2023 veranstalten die beiden Institutionen jährlich ein Podium zu einem Aspekt des Themenfeldes. Dies, um einen Beitrag zu Transparenz zu leisten, den Austausch zu ermöglichen und der interessierten Öffentlichkeit Informationen zugänglich zu machen. Die nächste Veranstaltung ist für September 2026 geplant.
Die Präventionsfachfrau schätzt, dass 95 Prozent des kirchlichen Personals die Schutzkonzepte ernst nähmen und mithelfen, diese umzusetzen. Besonders hilfreich sei die Zusammenarbeit in der Prävention mit Menschen, die den sexuellen Missbrauch aus eigener Erfahrung kennen.
Hinderlich hingegen sei die Ungleichberechtigung der Frauen in der katholischen Kirche, die katholische Sexualmoral und die kirchlichen Strukturen. Und Waser Balmer wünscht sich neben den von der Kirche unabhängigen Meldestellen eine kirchliche. Denn in der Arbeit mit Betroffenen habe sie immer wieder gemerkt, dass gewisse Personen explizit eine kirchliche Person ansprechen wollten, um ihre erschütterte Beziehung zur Kirche besprechen zu können.

Dolores Waser Balmer wünscht sich auch kirchliche Anlaufstellen für Betroffene.
Eva Meienberg
Sabine Scheuter, Beauftragte für Personalentwicklung und Diversity der Reformierten Kirche Kanton Zürich stellte das Schutzkonzept der reformierten Kirche in Zürich vor mit seinen sechs Handlungsbausteinen. Hilfreich findet Scheuter die dadurch entstehende rechtliche Orientierung. Kritisch sieht sie die grosse Verantwortung, welche die Kirchgemeinden übernehmen müssten. Immer wieder seien diese mit dem Personalmanagement und den daraus resultierenden Führungsaufgaben überfordert oder nähmen diese schlicht zu wenig ernst. Dass Behördenmitglieder nicht zu Schulungen gezwungen werden könnten, verschärfe das Problem.

Sabine Scheuter will auch Behördenmitglieder mehr in die Pflicht nehmen.
Eva Meienberg
Auch Sabine Scheuter betonte die Wichtigkeit, das Präventionswissen der Mitarbeitenden immer wieder aufzufrischen und dabei auch die kirchlichen Freiwilligen einzubeziehen. Es ginge nicht an, sich auf Schutzkonzepten auszuruhen. Als besondere Schwierigkeit im kirchlichen Umfeld erwähnte die Präventionsfachfrau die mangelnde Abgrenzung von Beruflichem und Privatem. So sei das Ideal der Pfarrfamilie, die im Pfarrhaus neben der Kirche mitten im Dorf lebe, immer noch weit verbreitet. Ausserdem wünscht sich die Präventionsfachfrau griffigere Grundlagen für das Thema «Spiritueller Missbrauch». In der Schweiz sei das Thema vor allem gesetzlich aber auch theologisch immer noch schwer fassbar.
Auf dem anschliessenden Podium, das von Forum Co-Redaktionsleiterin Veronika Jehle moderiert wurde, waren die neu erarbeiteten Grundlagen und Standards der EKS, die im Juni diesen Jahres an ihrer Synode verabschiedet wurden, ein Thema. Cynthia Guignard, Beauftragte für Kirchenbeziehungen mit Schwerpunkt Grenzverletzungen der EKS, betonte die Wichtigkeit gemeinsamer Standards für die Kirchen. In der katholischen Kirche der Schweiz fehle eine solche Grundlage, bestätigt Stefan Loppacher, Leiter der Dienststelle Missbrauch in kirchlichen Kontexten der römisch-katholischen Kirche. Jedoch gebe es schon seit 20 Jahren Richtlinien, sagte er weiter. Dort seien einzelne Aspekte geregelt. Seine Dienststelle sei daran, Standards für Meldestellen zu erarbeiten. Verbindliche Standards für die Prävention fehlten jedoch.
Lilian Studer, ehemalige Nationalrätin und Präsidentin der Evangelischen Volkspartei hatte direkt nach der Veröffentlichung der Pilotstudie gemeinsam mit anderen Parlamentarierinnen und Parlamentariern beim Bundesrat eine Motion eingereicht. Darin wurde der Bundesrat beauftragt, gesetzliche Grundlagen zu schaffen und Massnahmen zu treffen, um Organisationen wie Kirchen, Schulen und Vereine in die Pflicht zu nehmen. Gemeinsame Standards für Schutzkonzepte, Präventionsmassnahmen und Kontrollen sollten jeglichen Missbrauch von Kindern verhindern. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier stützten sich dabei auf die UNO-Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz 1997 ratifiziert hatte.
Nach der Veröffentlichung der Pilotstudie seien viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier sehr betroffen gewesen und es habe im Parlament die Meinung vorgeherrscht, dass die Missbrauchsprävention schnell gestärkt werden müsse, erinnerte sich Lilian Studer. Die Motion sei denn auch vom Nationalrat unterstützt, jedoch vom Ständerat abgelehnt worden, weil dieser einen Clinch in der Vereinbarkeit von nationalen Massnahmen mit der Kantonshoheit der Kirchen und Schulen gesehen habe. Die Alt-Nationalrätin möchte, dass gewichtige Themen wie die Missbrauchs-Prävention national geregelt werden können. Aus der von Studer eingereichten Motion wurde schliesslich ein Postulat, das von beiden Kammern angenommen wurde und nun einen Bericht des Bundesamtes für Sozialversicherungen nach sich zieht.

Stefan Loppacher befürwortet externen Support von HR-Profis für Behördenmitglieder.
Eva Meienberg
In der Begleitgruppe zur Erstellung des Berichts sind unter anderen Stefan Loppacher und Cynthia Guignard. Beide Präventionsexperten waren sich am Podium einig, dass der Austausch zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen unabdingbar sei. Ebenfalls brauche es griffige gesetzliche Grundlagen, etwa zum spirituellen Missbrauch. Ansprechpersonen und gemeinsame Standards auf kantonaler Ebene seien sehr hilfreich, wie dies im Kanon St. Gallen bereits der Fall sei, sagte Stefan Loppacher.
Auf die Frage nach der Bedeutung der ökumenischen Zusammenarbeit in der Missbrauchsbekämpfung waren die Podiumsteilnehmenden zurückhaltend. «Prävention bedeutet, zu einer lernenden Organisation zu werden», sagte Stefan Loppacher. Wichtig sei es, im Austausch mit anderen Kirchen zu sein und voneinander zu profitieren, was aber vor allem zähle sei der fortwährende Prozess: «Die Prävention zerfällt, wenn wir nicht laufend in sie investieren.» Cynthia Guignard gab ausserdem zu bedenken, dass die kirchlichen Strukturen komplex seien. Die EKS bestehe aus 20 Landeskirchen, was zu langsamen Prozessen führe. Weitere Player aus der katholischen Kirche würden dies noch verschärfen.
Am Schluss der Veranstaltung kam das von Sabine Scheuter aufgeworfene Thema der Verantwortung der Laienbehörden nochmals zur Sprache. Wie könnten diese für Schulungen und Kontrollaufgaben im Personalmanagement verpflichtet werden? Stefan Loppacher betonte, dass Prävention auch funktioniere, wenn nicht alle mitmachten. Umso wichtiger sei dann die Öffentlichkeitsarbeit. Wenn Standards bekannt seien, würden auch Verstösse besser erkennbar. Wichtig seien ausserdem externe Supportangebote für Behörden von HR-Profis, die wüssten, wie Personaldossiers oder schwierige Personalgespräche richtig geführt würden. Cynthia Guignard verwies ebenfalls auf die Wichtigkeit der Sensibilisierung der Basis, die der Prävention sehr helfe.