Bethlehem hat inzwischen zwei Weihnachten und zwei Ostern ohne Feierlichkeiten erlebt – ohne Lichter, ohne Pilger, ohne Freude. Sie sind als palästinensischer Christ in Bethlehem geboren und aufgewachsen. Wie hat sich das Leben dort verändert?
Seit dem 7. Oktober 2023 ist das Leben in Bethlehem wie erstarrt. Die Strassen sind menschenleer. Der Krieg hält Hunderttausende Besucher fern – dabei ist der Tourismus unsere Lebensader. Ohne ihn liegt die Wirtschaft am Boden. Die Arbeitslosigkeit gehört zu den höchsten im Westjordanland. Die Menschen sind verzweifelt – sie wissen nicht mehr weiter.
Wie zeigt sich diese wachsende Verzweiflung im Alltag?
Die Menschen ziehen sich in sich zurück. Wer noch Arbeit hat, steht morgens auf, geht seiner Beschäftigung nach – und schliesst abends die Tür zur Welt. Der soziale Zusammenhalt bröckelt. Und seit dem 7. Oktober beobachten wir einen Anstieg der Gewalt – in Bethlehem und anderswo. Fast jede Nacht sind israelische Soldaten in der Stadt. Razzien gab es schon immer, aber nicht so oft, nicht so gewalttätig. Aber auch die Kriminalität nimmt zu – kleine Diebstähle, Übergriffe.
Häusliche Gewalt?
Ja, absolut. Wir leben unter enormem Druck. Wenn Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, wenden sie sich gegeneinander. Häusliche Gewalt, Missbrauch von Kindern – all das nimmt zu. Aber aufgrund der Besatzung sind diese innerpalästinensischen Probleme zu einem grossen Tabu in unserer Gesellschaft geworden.
Sie arbeiten für Wi’am, eine Organisation, die sich für gewaltfreie Konfliktlösung einsetzt, und vermitteln oft zwischen Betroffenen und Tätern - auch in Fällen häuslicher Gewalt. Wie wird diese tabuisierte Arbeit in der Gemeinschaft aufgenommen?
Es ist schwierig. Als Menschen unter Besatzung stehen wir ständig vor einem Dilemma: Sollten wir über unsere internen Probleme sprechen? Wenn wir sie benennen, laufen wir Gefahr, genau jene Stereotype zu bestätigen, die gegen uns verwendet werden. Aber wenn wir es nicht tun, ändern wir nie etwas.
Ist das der Grund, warum die palästinensische Zivilgesellschaft sich so schwer damit tut, die Hamas zu kritisieren?
Das ist eine schwierige Frage. Was könnten wir sagen, das uns nicht schadet? Wenn wir die Hamas verurteilen und so tun, als hätte der Konflikt erst am 7. Oktober begonnen, blenden wir Jahrzehnte von palästinensischem Leid aus und rechtfertigen Israels Vorgehen in Gaza. Wenn wir die Taten nicht verurteilen, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit – und Fördermittel. Wir können nicht gewinnen.
Ich lehne jede Form von Gewalt ab, aber ich glaube trotzdem an das Recht auf Widerstand.
Sie sind Friedensaktivist. Wo ziehen Sie persönlich die Grenze, wenn es um Gewalt geht, etwa durch die Hamas?
Ich lehne jede Form von Gewalt ab, aber ich glaube trotzdem an das Recht auf Widerstand. Gewalt wird aber nie zu gewaltfreien Ergebnissen führen. Ich glaube, wenn wir einander verletzen, verletzen wir auch uns selbst. Selbst Unterdrücker sind durch ihre eigene Unterdrückung gefangen. Viele der jungen Soldaten wollen keinen Krieg – sie wollen leben, lieben, träumen. Das System drängt sie in den Konflikt. Als Friedensaktivist versuche ich diese Kreisläufe zu durchbrechen.
Sie sprechen oft von «internalisierter Unterdrückung». Was meinen Sie damit?
Wenn man lange genug unter Besatzung lebt und die Weltgemeinschaft schweigend zuschaut, beginnt man zu glauben, dass man sie vielleicht verdient hat. Man fragt sich: Liegt es an uns? Ist unsere Gesellschaft kaputt? Wir hören von allgemeingültigen Menschenrechten, von «Nie wieder» – aber all das scheint für andere zu gelten. Deutschland sagt: Nie wieder. Doch dieses «Nie wieder» schliesst uns nicht mit ein. Und so glauben viele Palästinenser: Vielleicht sind wir wirklich weniger wert. Weniger als menschlich. Weil wir so behandelt werden.
Wie helfen Sie Menschen, sich aus diesem Denken zu befreien?
Bei Wi’am schaffen wir geschützte Räume – besonders für Frauen und Kinder. Wir zeigen ihnen: Du hast Macht über dein eigenes Leben. Wir können zwar die Besatzung nicht beenden, den Völkermord in Gaza nicht stoppen – aber wir können in unserer Gesellschaft anfangen, etwas zu verändern. Das ist Selbstermächtigung.
Sie sprechen von einem Gefühl des Nicht-Dazugehörens als Palästinenser – selbst zu globalen Werten wie «Nie wieder». Betrifft dieses Gefühl auch Ihre Identität als palästinensischer Christ?
Vor dem Krieg lebten weniger als 46 000 palästinensische Christen im Westjordanland und im Gazastreifen. Heute sind es noch weniger. Früher war meine Schule zur Hälfte christlich, heute sind es vielleicht noch 30 Prozent. Es gibt Orte, an denen es keine Christen mehr gibt – in denen junge Menschen gar nicht wissen, dass palästinensische Christen überhaupt existieren. Wenn ich durch Hebron gehe, sehen mich die Leute an, als wäre ich ein Ausländer – dabei bin ich hier zu Hause.
Wie verändert dieser Rückgang das Leben der palästinensischen Christen?
Viele verbinden mit «christlich» heute westliche Macht und politische Interessen. Sie hören von den «christlichen Werten» der USA oder deutscher Parteien. Aber deren Politik spiegelt selten die Werte wider, für die wir als palästinensische Christen stehen. Das schadet uns.
Wir brauchen gleiche Rechte - gleiche Staatsbürgerschaft, gleiche Würde.
Kommt es als Folge dessen zu Angriffen auf Christen?
Kaum. Wir gehören alle zum selben Volk. Die Konflikte, die es gibt, haben nichts mit Religion zu tun. Es ist der Druck, unter dem wir alle stehen.
Was wäre aus Ihrer Sicht eine gerechte und dauerhafte Lösung?
Wahre Sicherheit entsteht nicht durch militärische Macht, sondern durch Beziehungen und gegenseitigen Respekt. Wenn jemand sagt: «Wir sorgen uns um Israels Sicherheit», dann ist das gut. Ich tue das auch, aber es darf nicht auf Kosten von uns Palästinensern geschehen.
Wie wichtig ist Ihnen dabei die Zusammenarbeit mit Israelis?
Sehr. Tatsächlich waren es nach dem 7. Oktober unsere jüdischen und israelischen Partner, die am lautesten für uns sprachen – als wir verstummten. Ihre Stimmen haben Gewicht, denn sie waren es, die angegriffen wurden. Und sie nutzen sie, um Gerechtigkeit und Frieden für uns Palästinenser zu fordern.
Angesichts des Krieges in Gaza und des israelischen Traumas vom 7. Oktober – ist ein friedliches Zusammenleben überhaupt noch möglich?
Wir müssen sowohl das Leid anerkennen, das wir erfahren haben, als auch das, das wir verursacht haben. Und wir müssen daran glauben, dass wir über beides hinauswachsen können. Ein Therapeut hat einmal gesagt: «Die Traumatisierten sagen ‘Nie wieder’ – und meinen sich und ihr Volk. Die Trauma-Weisen sagen ‘Nie wieder’ – und meinen sich selbst, ihr Volk und alle anderen.» Wir müssen traumakundig werden. Verstehen, dass wir nicht allein Opfer sind. Und dass Opfer-Sein nicht unsere Identität ist. Wir können frei sein und aus all dem hervorgehen – mit Würde, mit Selbstbestimmung, als Teil einer Weltgemeinschaft, die jeden Menschen achtet. Niemand verdient Besatzung. Niemand verdient Völkermord. Und wenn die Welt «Nie wieder» sagt, dann muss das auch uns Palästinenser mit einschliessen.
Bevorzugen Sie eine Ein- oder eine Zwei-Staaten-Lösung?
Bevor wir überhaupt über eine gemeinsame Zukunft sprechen können, müssen wir die Ungerechtigkeit der Gegenwart anerkennen: Die Besatzung muss aufhören. Was eine zukünftige Lösung betrifft: Ein gemeinsamer Staat ist zurzeit nicht möglich. Es fehlt an Vertrauen und Heilung. Vielleicht brauchen wir erst eine Phase mit zwei oder sogar drei Entitäten – Gaza, Israel, Westjordanland –, mit offenen Grenzen, Bewegungsfreiheit, wie in Europa. Und daraus kann später ein gemeinsamer Staat entstehen. Aber wichtiger als das Staatenkonstrukt sind drei Grundprinzipien.
Und die wären?
Erstens: Alle müssen das Recht auf das gesamte Land haben. Nicht um jemanden zu vertreiben – sondern weil jeder Palästinenser und jeder Jude durch Religion und Kultur mit diesem Land verbunden ist. Zweitens: Es braucht die Anerkennung allen Leids - des jüdischen Traumas durch den Holocaust. Aber auch des historischen Leids der Palästinenser: das britische Mandat, die Vertreibung 1948, die Besatzung und die Kriege wie jetzt in Gaza. Wir müssen anfangen, all das zu heilen. Und drittens: Wir brauchen gleiche Rechte – gleiche Staatsbürgerschaft, gleiche Würde. Egal ob Palästinenser oder Israeli.
Trotz allem – Besatzung, Krieg, Hoffnungslosigkeit – glauben Sie noch an den Frieden?
Ja. Meine Jahre in der Konfliktmediation haben mir gezeigt: Der Mensch kann sogar denen vergeben, die ihm wehgetan haben – wenn sein Schmerz gesehen wird. Veränderung ist möglich. Aber nur, wenn Menschen sich neu zeigen dürfen, wenn sie ehrlich über das Leid sprechen können – das sie erlebt und das sie selbst verursacht haben. Und wenn wir den Mut haben, uns dem Unbequemen zu stellen. Dann können wir aufhören, in Schwarz und Weiss zu denken – und anfangen, eine gerechte und pluralistische Gemeinschaft zu bauen, die nicht auf militärischer Macht beruht, sondern auf Miteinander.
Dieses Interview ist zuerst im Magazin Chrismon erschienen.

zvg
Tarek Al-Zoughbi (*1993) ist christlich-palästinensischer Friedensaktivist aus Bethlehem mit US-Staatsbürgerschaft. Er ist in Bethlehem aufgewachsen und hat in den USA Friedens- und Konfliktforschung studiert. Heute arbeitet er als Projekt- und Jugendkoordinator bei «Wi’am – The Palestinian Conflict Transformation Center», wo er sich für gewaltfreie Konfliktlösung, interreligiösen Dialog und Bildungsarbeit mit Jugendlichen engagiert. Er lebt in Bethlehem in der West Bank.