Über Jahrhunderte hinweg wurden antijüdische Darstellungen in Kirchen installiert. Diese Werke sind geprägt von verachtenden Stereotypen: Juden als geldgierige Menschen oder als theologisch Blinde, die ihre eigenen Heiligen Schriften nicht verstehen, bis hin zu feindlichsten Verunglimpfungen als Schweine und Kindsmörder. Es stellt sich die Frage, wie heute in Sakralräumen mit solchen Artefakten aus der Geschichte umgegangen werden soll. Soll solche Kunst verhüllt, visuell entfremdet oder entfernt werden? Soll man sie durch Beschriftung kontextualisieren? Überlässt man die Erklärung den Kirchenführungen?
Im Kölner Dom ist diesbezüglich vorbildliche Arbeit geleistet worden. Eine intensive Auseinandersetzung mit der «Judensau» im Chorgestühl hat zur Bildung einer Arbeitsgruppe «Der Kölner Dom und die Juden» geführt. In Veranstaltungen und Publikationen wurden die bislang bekannten antijudaistischen Kunstwerke historisch kontextualisiert. Domführungen werden seit einigen Jahren problembewusst und sensibel gestaltet. Zugleich entschied die Arbeitsgruppe in Abstimmung mit dem Domkapitel, die problematischen Werke selbst nicht anzutasten. Vielmehr sollte ein neues Kunstwerk zur jüdisch-christlichen Beziehung geschaffen werden. Die Idee: Ein künftiges Kunstwerk soll in den Dialog mit den bestehenden Kunstwerken treten. Dieser Grundsatzentscheid führte 2023 zu einem Kunstwettbewerb und ergab 15 hochkarätige Eingaben.
Der kürzlich gekürte Entwurf der deutschen Künstlerin und Philosophin Andrea Büttner (*1972) nimmt, zumindest auf den ersten Blick, keinen Bezug zu antijudaistischen Darstellungen im Dom. Büttner arbeitet nicht mit Licht, sondern mit einer tiefschwarzen Fläche. Diese Fläche scheint einen Raum zu eröffnen, wie ein Fenster, zumal die Schwärze auf einer Wand angebracht ist, die durch den Rahmen eines gotischen Fensters strukturiert ist. In diesem Maßwerk lässt Büttner indirekt ein Stück christlichen Antijudaismus aufscheinen. Sie sieht die fotorealistische Darstellung eines Fundamentfragments des Thoraschreins aus der zerstörten mittelalterlichen Kölner Synagoge vor, das 2014 geborgen wurde. Büttner malt den Stein naturalistisch, lässt ihn schweben, leicht und schwer zugleich. Er erscheint wie ein Meteorit.
Büttner positioniert ihr Werk in der Marienkapelle an der Stirnwand über dem goldenen, spätgotischen Flügelaltar der Stadtpatrone Kölns von Stefan Lochner (um 1400/1410 – 1451). Sie schafft Kontrast. Den groben Stein, wie Urgestein aus unvordenklicher Zeit und ewigem Raum kommend, setzt sie in Beziehung zu dem ziselierten und fein gearbeiteten Altarbild der Madonna mit Kind, in sich verletzlich und Behutsamkeit fordernd. Diese Zuordnung erzeugt emotionale und ästhetische Kraft, sei es irritierend oder bedrohlich, sei es faszinierend oder staunenerregend.
Die Mehrheit der Besucher wird die Marienkapelle im Kölner Dom betreten, ohne dieses Kunstwerk zu verstehen. Auch sein Titel wird sie nicht klüger machen: «Ohne Titel». Die Bezeichnung löst nur weitere Fragen aus. Erst wenn die Betrachter erfahren, dass der Stein auf schwarzem Grund das Fundament des Thoraschreins der mittelalterlichen Synagoge darstellt, beginnen sie zu verstehen. Indes benötigen sie weiteres Wissen: Im 15. Jahrhundert wurden die Juden aus Köln vertrieben, die Synagoge wurde enteignet und zur Ratskapelle umgebaut. Der Altar der Stadtpatrone, vom Rat in Auftrag gegeben, wurde über dem Fundament errichtet, auf dem zuvor der Thoraschrein stand. Hatten also die Christen einst den Thoraschrein zerstört und an seiner Stelle einen Altar gestellt, so schwebt nun die Basis des Thoraschreins über dem christlichen Altar. Die Thora ist zurück. Das Kunstwerk inszeniert die Wiederkehr des Verdrängten. Es entlarvt den christlichen Antijudaismus. Es stellt die Gewalt des Rates und der Kirche von einst bloss.

Andrea Büttner
Das Werk «Ohne Titel» eröffnet einen Raum, der an den Gott erinnert, der zwar einen Namen hat, von dem aber kein Bild gemacht werden darf. Vor dem schwarzen Raum des Schweigens spricht Gott sein Wort: Er schenkt seit Urzeiten die Thora, und Christus wird als das Fleisch gewordene Wort geglaubt. Wird nun der verworfene Stein des Thoraschreins über dem Altar positioniert, kehrt er zurück ins Herz der christlichen Liturgie. Auf dem Altar aber wird Eucharistie gefeiert, Christus, der in seiner Hingabe die Gewalt der Kreuzigung unterläuft und transformiert. Wer Eucharistie feiert, stellt sich in die gewaltlose Nachfolge Jesu und bittet um Vergebung.
Ein Heilungsprozess verläuft jedoch nie linear. Es kann Rückfälle geben, auch unvorhergesehene Nebenwirkungen. Durch das Kunstwerk von Büttner in der Marienkapelle besteht auch eine Gefahr. Die Zuordnung zum Altar der Stadtpatrone könnte in einem alten antijudaistischen Muster gelesen werden. Der berühmte golden leuchtende Altar steht vor dem schwarzen Hintergrund mit dem Thorasockel aus der Synagoge. Das Judentum also als dunkle Folie, vor der die christliche Wahrheit aufleuchtet? Sind Künstlerin und Wettbewerbsjury doch dem Antijudaismus auf den Leim gekrochen?
Wer die Qualität nicht nur des Goldes, sondern auch des Schwarzes in «Ohne Titel» wahrnimmt, der sieht auch in der Schwärze eine Qualität, die für das Göttliche steht. Der schwarze Raum gehört zur zentralen Symbolik in der jüdischen Mystik.
«Ohne Titel» weist eindeutig in diese Richtung. Das Wunder der Gabe der Thora und der Offenbarung Christi ist überhaupt nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. So löst auch das Neue Testament nicht das Alte Testament ab, sondern es steht neben der mündlichen Thora des rabbinischen Judentums.
Das Kunstwerk von Büttner im Dialog mit dem Marienaltar von Lochner weist in die Richtung gemeinsamen Lernens und Feierns. Es stellt ein würdiges Glied in einer Kette der Kunstwerke des Kölner Doms dar, aber keinen Schlussstrich.
Christian M. Rutishauser war Mitglied der Jury, die am Ende das Werk von Andrea Büttner zum Siegerprojekt gewählt hat. Sein Text ist eine gekürzte Fassung eines Essays, der in der Ausgabe 7/2025 der Herder Korrespondenz erschienen ist.