Was ist Ihre Vision von Kirche sein – in drei Sätzen?
Christus heute nachfolgen.
Das sind drei Worte.
Dann sage ich: Christus heute nachfolgen. In Gemeinschaft. Und aus dem Gepackt-Sein von Gott unseren Alltag in dieser Welt leben.
«Mut zur Veränderung»: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen?
Am wichtigsten ist mir, einen Perspektivenwechsel zu schaffen: dass wir nicht einfach versuchen, an dem zu schrauben, was bisher war. Sondern dass wir grundlegend unsere Berufung neu entdecken und neu gestalten.
Warum scheint das so schwierig?
Was wir heute als «christliche Berufung» leben, ist stark geprägt vom Zeitgeist des 4. Jahrhunderts und von Kaiser Konstantin: eine konstantinische, eine herrschaftliche Kirche. Das ist so stark in uns drin, weil es dominant war über so lange Zeit. Auch von aussen werden wir weiterhin so wahrgenommen. Wenn ich heute daran etwas ändere, haben einige sogar den Eindruck, dass wir damit vom Glauben abfallen. Dabei hat es gar nichts mit dem Evangelium zu tun.
Wie gelingt dieser Perspektivwechsel?
Wir können ihn schaffen und dazu beitragen. Diese Begegnungssynode ist ein gutes Beispiel: Ich hatte die Möglichkeit, vielen, die jetzt Verantwortung haben in der reformierten und katholischen Konfession im Kanton Zürich, etwas mitzugeben. Und das löst bei einzelnen Menschen etwas aus und die bringen es dann weiter. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.
Was wäre also der erste Schritt?
Ich glaube, man braucht gar nichts Neues zu machen. Wir brauchen nur das ernst zu nehmen, was wir bereits verkünden. Zum Beispiel das Sanctus: «Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit». Der heilige Benedikt würde sagen: Nun gehe mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren durchs Leben, weil Gott da ist, und entdecke diese Gegenwart Gottes, suche sie zusammen mit andern. Es gibt Situationen, wo es zum Verzweifeln ist, wo man diese Gegenwart Gottes nicht mehr entdeckt. Ich denke an die Kriege oder an die Katastrophe im Gazastreifen. Und da zu Gott zu schreien, nach Hilfe zu schreien, miteinander.
Wie verändert man in einer Institution wie der Kirche, die nicht sehr veränderungs-freudig ist?
Dem würde ich nicht so allgemein zustimmen. Es gibt viele Gemeinschaften in allen Konfessionen, in denen sehr viel an Umkehr und Veränderung passiert. Und es gibt andere, da passiert überhaupt nichts. Das sehen wir auch, wenn wir uns die Pfarreien hier im Kanton Zürich anschauen: Es gibt solche, bei denen wirklich alles festgemauert zu sein scheint, da bewegt sich nichts, und andere, die sehr lebendig sind. Wenn ich in ein Kirchengebäude hineingehe, nehme ich das sofort wahr: Ist die Gemeinschaft, die sich hier am Sonntag versammelt, lebendig oder nicht?
Sie sagen, man müsse einem Kirchengebäude ansehen, dass wir als Kirche unterwegs sind – sonst haben wir versagt. Woran sieht man das?
Es reicht nur schon ein Blick auf den Schriftenstand und auf die Gestaltung des Innenraumes. Wenn das kaum erkennen lässt, ob es ein Zweites Vatikanisches Konzil gegeben hat, dann muss das zu denken geben. Man spürt doch, ob da der Mut ist, etwas zu ändern. Und natürlich, in jeder Pfarrei gibt es Leute, die alles daran setzen, dass es so bleibt, wie es ist.
Haben Sie das in der Propstei St. Gerold auch erlebt: die Leute, die nichts ändern wollen?
Die Propsteikirche wird auch von der Pfarrei genutzt. Die meisten Menschen, die die Propsteikirche aufsuchen und hier mitfeiern, kommen aber von auswärts, vor allem auch die Gäste der Propstei. Letztere sind begeistert. Aus der Pfarrei gab und gibt es einzelne Leute, die mit den Veränderungen ihre Mühe haben.
Und Sie als Propst und als Propstei-Gemeinschaft haben «einfach gemacht»?
Ja. Wir haben zuvor aber das Gespräch und den Austausch mit dem Pfarrer und dem Pfarreigemeinderat gesucht. Die Beteiligten waren von den geplanten Veränderungen überrascht, aber haben sie unterstützt. Sie empfahlen, dass ich zuvor im Pfarrblatt ankündige, welche Schritte wir vorhaben.
Was haben Sie im Kirchgebäude von St. Gerold verändert?
Wir haben zum Beispiel die Kirchenbänke herausgenommen. Im Pfarrblatt hatte ich beschrieben, warum wir das machen. Und als wir es dann gemacht haben, gab es von einzelnen Personen heftige Reaktionen. Das Pfarrblatt kam in der Karwoche heraus und am Dienstag der Osterwoche haben wir die Bänke rausgenommen.
In der Osternacht sehe ich ein Gemeindemitglied in der letzten Bankreihe sitzen. Ich frage ihn, ob er nicht zum Osterfeuer mitkommen möchte. Er: «Ich sitze auf dieser Bank, solange sie noch da ist. Und dann bringt mich niemand mehr in diese Kirche.» Sage ich: «Du, früher oder später werden sie dich hereintragen.» In der Zwischenzeit kommt er wieder jeden Sonntag, wie früher. Auch ohne Kirchenbänke.
Wie gehen Sie mit den kritischen, verärgerten Reaktionen um?
Wir haben die Leute aus St. Gerold an zwei Sonntagen nach dem Gottesdienst eingeladen, über die Veränderungen zu reden und zu diskutieren. Einer hat gesagt: «Jetzt sind die Bänke rausgekommen. Aber wenn der Altar rauskommt, dann überschreitet ihr eine rote Linie.» Dann sagte ich: «Der Altar kommt raus». Er: «Und dann kommen die Glocken raus und dann die Orgel?!» Antworte ich: «So weit habe ich jetzt nicht gedacht – aber die Idee ist nicht schlecht.» Wir können es miteinander auch humorvoll nehmen.
«Hört auf in die Kirche zu gehen», sagen Sie ganz explizit. Was meinen Sie damit?
Ich gehe nicht in die Kirche. Ich bin Kirche! Wir sind einmal in die Kirche gegangen – und das war bei der Taufe. Zu realisieren, dass ich selbst Kirche bin – das ist für mich ein ganz wichtiger Schritt.
Das ist auch eine Form der Selbstermächtigung.
Ja, selbstverständlich. Ich bin Kirche. Ich trage Verantwortung, ich habe Pflichten, ich habe Rechte. Ich bin gefordert. Und wenn ich «in die Kirche gehe», dann bin ich in der Haltung als Aussenstehender.

Im ehemaligen Altarraum ist eine «Spirituelle Wohnecke» entstanden.
zvg
Sie haben das Bild gern, Kirche sei eine Baustelle. Was ist bei Ihnen in St. Gerold als Nächstes dran?
Das ist eine bleibende Baustelle. Wenn wir in der Propstei St. Gerold keine Baustelle mehr haben, dann schliessen wir. Eine Baustelle ist immer ein Zeichen der Hoffnung.
Und was ist auf dieser Baustelle als Nächstes dran?
Verschiedene Dinge. Die Krypta ist zum Beispiel noch nicht barrierefrei. Einer der alten Seminarräume ebenfalls nicht. Das muss noch umgesetzt werden. Im Kirchenraum haben wir zurzeit keine Heizung. Auf nächsten Winter wird eine Infrarotlösung umgesetzt, integriert in die Beleuchtung. In nachhaltiger Weise heizen wir nicht mehr den Raum, sondern die Wärme kommt direkt bei den Menschen an.
Kurz gesagt: Wofür braucht es Kirchenräume überhaupt?
Es braucht einfach Räume, in denen man sich treffen und feiern kann. Es muss aber kein klassischer Kirchenraum sein. Gerade wenn man von Sakralraum spricht, muss man sehr vorsichtig sein, weil genau diese Unterscheidung zwischen profan und sakral das ist, was Gott nicht wollte. Er wollte bei den Menschen sein, nicht in einem Gebäude.
Also braucht es eigentlich gar keinen Kirchenraum?
Genau, den braucht es nicht und es gab ihn in den ersten Jahrhunderten des christlichen Glaubens auch nicht. Kirchenräume als eigene Gebäude verdanken wir Kaiser Konstantin.
Woher nehmen Sie Ihre innere Freiheit?
Die ist uns im Glauben geschenkt. Glaube ist Leben, nicht Systemerhaltung. Das dürfen wir nicht nur bekennen, sondern auch leben. Der Bischof von Feldkirch bezeichnet die Propstei gerne als Laboratorium der Kirche. Wir haben ein gutes Leitungsteam in St. Gerold, wir verstehen einander gut, wir tauschen miteinander aus. Wenn wir einen Schritt wagen, dann wissen wir auch, dass das Widerstand geben kann und das tragen wir dann miteinander.
Sie beherrschen die Kunst der Provokation. Und wirken dabei recht fröhlich. Was erreicht Provokation?
Wenn ich in einem Vortrag oder in einer Predigt das sage, was die Leute erwarten, dann kann ich es mir ersparen. Es wäre auch langweilig. Aber unser Glaube ist nicht langweilig! Ich möchte etwas aufbrechen, eine neue Perspektive hineinbringen. Beim Thema Umnutzung von Kirchenräumen zum Beispiel, da kann ich doch nicht bei den Räumen anfangen. Ich muss doch bei meiner Vision von Kirche und unserer prophetischen Berufung beginnen, erst daraus kann sich ergeben, wofür ich allenfalls einen Kirchenraum brauche und wie er als Lebensraum gestaltet sein müsste. Die grundsätzliche Frage, der wir uns stellen müssen, ist: Was ist unser Schatz? Was müssen wir pflegen? Wo wollen wir uns vor allem engagieren: in den teuren Räumen – oder im Hören auf den Schrei der Menschen nach Leben? Das ist der Auftrag, den wir haben.
Es braucht einen Visionär oder eine Visionärin, die vorangehen?
Wir alle tragen seit der Taufe die prophetische Berufung in uns.
Sie haben mit «Miteinander die Glut unter der Asche entdecken» pro-voziert, haben sämtliche Reformpostulate benannt. Das war 2012. Welche Entwicklungen in der Schweizer Kirche werten Sie positiv?
Ich bin jetzt natürlich schon weiter weg von der Kirche in der Schweiz. Ich kann sagen, dass ich besonders zwei Frauen in der Schweizer Kirche prophetisch wahrnehme. Helena Jeppesen-Spuhler, die an der Synode in Rom dabei war. Wie sie ihre Erfahrungen weitergibt, finde ich grossartig, verbunden mit ihrem Engagement bei der Fastenaktion. Grossartig. Dann Priorin Irene Gassmann, die für mich prophetisch ist, weil sie immer wieder die Stimme erhebt und ihre Anliegen pointiert einbringt. Letzthin, habe ich auf kath.ch gelesen, sagte sie in ihrem Schlusswort bei einer Veranstaltung zur Zukunft der Klöster: Die Frage sei nicht, «Was ist noch möglich?», sondern: «Was ist neu möglich?» Stark.
Seit 2020 ist Pater Martin Werlen (*1962) als Propst der Leiter der Einsiedler Propstei Sankt Gerold im österreichischen Vorarlberg. Der Walliser ist 1983 in die Benediktinerabtei Einsiedeln im Kanton Schwyz eingetreten und war deren Abt zwischen 2001 und 2013.