Widmer & Binotto

Dürfen wir asozial sein?

Ich werde nicht für den Egoisten-Turbo voten. Aber die Altruisten-Walze ist auch keine Lösung. Wenn ich nämlich wieder mal auf dem Bescheidenheitstrip bin, dann lebe ich auf Dauer weit über meine sozialen Verhältnisse. Bis der Frust ziemlich eruptiv und hässig aus mir herausbricht: «Lasst mich einfach mal in Ruhe!» – «Ich habe im Fall auch Bedürfnisse!» – «Denkt eigentlich irgendjemand auch an mich?» Dann ist von meiner Sozialkompetenz, die ich zuvor in aller Selbstgefälligkeit vor mir her­getragen habe, nur noch ein Klumpen Unzufriedenheit übrig.

Es gibt übergriffige Empathie, die zu wissen glaubt, was die Nächsten jetzt gerade brauchen, früher und besser noch als diese selbst. Der Welt wäre jedoch sehr geholfen, wenn wir vor allem unsere eigenen Wünsche offen benennen könnten. Und den Mitmenschen das Gleiche zutrauen.

Das kann allerdings nur funktionieren, wenn wir unsere Wünsche nicht mit Befehlen verwechseln. Wer richtig wünscht, kann auch mit einem «Nein», einem «Vielleicht», einem «Schaunmermal» umgehen. Wer darauf mit einem «Das-ist-jetzt-aber-asozial» reagiert, der schwingt eine versteckt selbstsüchtige Moralkeule. Die Herzen werden auf diese Tour ganz bestimmt nicht geöffnet.

Als ich sehr jung war und Streaming noch in weiter Ferne, da spielte es eine Rolle, ob man eine Schallplatte besass oder nicht. Mit einem meiner Schulfreunde tauschte ich deshalb jeweils meine neusten Musikschätze. Wobei das Tauschgeschäft recht einseitig war: Ich lieh ihm meine Platten. Und er liess sie sich ausleihen. Die soziale Sollbruchstelle war an jenem Tag erreicht, als er mir Vorwürfe machte, eine Neuerscheinung noch nicht besorgt zu haben. Er warte darauf, sie ausleihen zu können.

Diese Szene ist zu einem der vielen Gleichnisse geworden, die mir mein eigenes Leben eingeschrieben hat: Sei grosszügig, aber lass dich weder durch deinen eigenen Gutheitsfimmel nötigen noch durch die frechen Ansprüche anderer.