
Stefan Loppacher ist Kirchenjurist und Präventionsexperte. Bis 2024 war er Präventionsbeauftragter des Bistums Chur. Aktuell leitet er die Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» von SBK, RKZ und KOVOS und ist Co-Leiter der unabhängigen Fachstelle MachtRaum.
Christoph Wider
Was hat Aufarbeitung und Prävention von Machtmissbrauch in der Kirche mit mir zu tun? Es ist mir bewusst, dass eine solche Frage, direkt an Sie, liebe Leserin, lieber Leser gerichtet, provozieren, auf Ablehnung stossen und empören kann. «Ich habe ja niemanden missbraucht! Was soll das mit mir zu tun haben? Ich leide ja selber unter diesen oder jenen Missständen in der Kirche!» Leider werden nicht wenige von Ihnen in einem institutionellen, im privaten oder im religiösen Kontext selbst sexuell übergriffiges Verhalten oder andere Formen des Machtmissbrauchs erlebt haben. Und jetzt sollen Sie sich auch noch die Frage nach Aufarbeitung und Prävention stellen?
Prävention ist in erster Linie eine Führungsaufgabe und liegt somit über weite Strecken in der Verantwortung jener, die auf Ebene der Gemeinde, der Kantonalkirche und des Bistums Leitungspositionen innehaben. Wer undifferenziert daherredet, dass wir ja alle Kirche seien, und somit alle eine Mitverantwortung für sexuellen und spirituellen Missbrauch in den eigenen Reihen hätten, betreibt Verantwortungsdiffusion. Vom korrekten Umgang mit einzelnen Vorfällen bis hin zur breiten Aufarbeitung der Vergangenheit liegt die primäre Verantwortung bei den heutigen Entscheidungsträgern und -trägerinnen. Für die einzelnen Taten sind die Tatpersonen und jene, die sie geschützt haben und gewähren liessen, verantwortlich.
Bin ich damit als bescheidenes Kirchgemeindemitglied, als einfache Kirchgängerin ganz aus dem Schneider? Nun, so einfach ist es an einem Ort, wo Menschen mehr oder weniger organisiert zusammenleben oder sich begegnen – also in der Gesellschaft oder in einer kirchlichen Gemeinschaft – nicht. Missbrauch findet nicht in abstrakten Räumen, sondern an konkreten Orten, in spezifischen kirchlichen Settings und in einem gewissen Klima, also innerhalb einer bestimmten Kultur, statt. Aus Sicht der Prävention bedeutet Kulturwandel: Haltungsänderung, Umlernen, anders handeln, Macht anders verteilen, Abläufe, Prozesse und Strukturen anpassen. Ziel ist eine Kultur, die Missbrauch nicht mehr begünstigt, sondern nachhaltig erschwert.
Auch Kultur ist konkret: Kultur ist das, was zwischen Menschen entsteht. In einer Organisation ist die Kultur also massgeblich durch zwischenmenschliche Interaktion und das Handeln aller Beteiligten geprägt. Die Kultur in der Kirche gestalten alle mit, aktiv genauso wie passiv, egal ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Also tragen auch alle eine Mitverantwortung für die Kultur in der eigenen Institution.
Je nachdem braucht es ein hohes Mass an Courage, Fehlverhalten oder Missstände direkt zu benennen. Dem Pfarreirat vorzuschlagen, einen öffentlichen Vortragsabend zum Verhaltenskodex zu organisieren, ist vielleicht schon etwas einfacher. Kritische Fragen stellen, Ansprüche an die Qualität von Seelsorgeangeboten zu haben, sich für eine offene Gesprächs- und Konfliktkultur an der Kirchgemeindeversammlung einzusetzen, das und vieles mehr ist nicht nur Ihr gutes Recht, sondern je nach Selbstverständnis auch Ihre Pflicht. Die Kultur in der Kirche ist davon geprägt, wie wir tagtäglich miteinander umgehen. Dieser Umgang entscheidet mit darüber, in welcher Kirche künftige Generationen leben werden.