«Christen sind der Kitt zwischen Juden und Muslimen»

Warum ist die Präsenz von Christinnen und Christen im Nahen Osten wichtig, gerade für den Frieden? Patriarch Gregor III. Laham war lange griechisch-katholisches Kirchenoberhaupt des Orients. In Zürich weist er auf die politische Verantwortung hin, die auch die Europäer tragen.

Patriarch Gregor III. Laham
Patriarch Gregor III. Laham ist offiziell im Ruhestand. Tatsächlich ist der 93-Jährige regelmässig auf Reisen, um auf die Not und die Bedrängnis der Christen im Nahen Osten hinzuweisen.

Patriarch Gregor, Sie warnen davor, dass Christinnen und Christen aus ihrer eigenen Wiege – Syrien, dem Nahen Osten – verschwinden könnten. Was wäre dann?

Klein, aber fein – und unverzichtbar… so sind wir Christen im Heiligen Land, das Syrien, Libanon, Palästina, Israel, Jordanien und Ägypten umfasst. Unsere Präsenz ist weit mehr als ein religiöses Detail – wir sind wichtige Brückenbauer zwischen Religionen, Kulturen und Menschen. Seit Jahrhunderten leben wir mit Muslimen Tür an Tür, oft unter Schwierigkeiten, aber immer bemüht um Versöhnung und Harmonie. Wenn dieses Element verschwände, ginge ein entscheidender Ausgleich verloren. Ohne Christen bliebe eine radikalisierte Gesellschaft zurück, in der die Vielfalt fehlt, die Frieden ermöglicht.
Wenn die arabische Welt rein islamisch würde und auf den Westen prallte, drohte ein «Kampf der Zivilisationen», wie ihn der Politikwissenschaftler Samuel Huntington einmal beschrieben hat. Darum müssen arabische Christen im explosiven Nahost-Kessel präsent bleiben. Wir sind der Kitt zwischen Juden und Muslimen. Unser Zeugnis ist: nicht aufgeben, dableiben und Beziehungen pflegen. Aber dazu brauchen wir auch die nötigen Lebens- und Überlebensbedingungen und die politische Stimme Europas, damit Minderheiten geschützt werden. Vergesst uns bitte nicht!

Fliehen Christen denn wirklich aus Glaubensgründen oder mehr aus wirtschaftlicher Not, so wie Angehörige anderer Religionen auch?

Armut und Arbeitslosigkeit betreffen die ganze Bevölkerung. Die einzigen, die sich bereichern, sind die Islamisten, die plündernd durchs Land ziehen. Denn seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 und der Machtübernahme durch die Oppositionsmiliz HTS herrscht Chaos und Unsicherheit. Aber uns Christinnen und Christen trifft es doppelt: Wir sind wenige und unsere Lage ist prekärer geworden. Viele fragen sich, ob ihr Land ein islamischer Staat werde. Trotz versprochener Religionsfreiheit nimmt die Gewalt gegen Christen und christliche Einrichtungen zu: Zuletzt wurden im Juni 2025 bei einem Anschlag auf die Mar-Elias-Kirche in Damaskus 30 Menschen getötet und 50 weitere verletzt. Im Süden Syriens brannten Kirchen und Wohnhäuser nieder – 38 Familien verloren all ihr Hab und Gut. Manche sehen keine Zukunft mehr. Doch ich sage: Nur wer bleibt, gibt dem Land eine Zukunft. Und auch fliehen ist nicht so leicht – wohin denn? Der Westen nimmt immer weniger Flüchtlinge auf. Darum tun die Kirchen alles, damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben können.

Zu den Anschlägen sagen Sie: Nicht der Islam sei das Problem, sondern die Islamisten. Aber wurzelt deren Extremismus nicht auch in Not? Wir sehen das gleiche Phänomen im Westen.

Natürlich gibt es überall Jugendliche, die aus Perspektivlosigkeit in Extremismus und Gewalt abrutschen. Aber Not allein macht niemanden zum Terroristen. Armut kann Herzen öffnen für Solidarität – oder verhärten. Was wir bei der islamistischen Radikalisierung sehen, hat tiefere Wurzeln: Es ist Ideologie, die Religion missbraucht, um Hass und Gewalt zu rechtfertigen. Junge Menschen werden in Schulen und Gruppierungen von klein auf darauf geprägt, dass Töten ein Dienst an Gott sei. Das ist nicht Not, das ist Verführung – perverses Machtstreben im missbrauchten Namen Gottes.
Das Christentum lehrt: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.» Er braucht Sinn, Hoffnung, Liebe. Wird diese Leere durch falsche Lehrer gefüllt, entsteht Fanatismus. Aber Achtung: Jede Religion kann missbraucht werden, das geschieht auch im Christentum. Wahrer Glaube und Spiritualität führen aber immer zu Respekt, Liebe, Leben – nie zu Gewalt. Darum sage ich: Nicht der Islam ist das Problem, sondern die Ideologisierung des Glaubens. Die beste Antwort auf Extremismus sind Dialog, offene Schulen, soziale Projekte – Orte, wo Menschen spüren: Glaube trennt nicht, sondern verbindet. Und wir Christen können dazu beitragen.

Wie setzen Sie den interreligiösen Dialog vor Ort konkret um?

Mit Liebe und Respekt zu allen Menschen. Die christlichen Schulen, sozialen Einrichtungen und Feste sind offen für alle, auch für Muslime. Unser Dialog ist der Alltag, wo wir Freud und Leid miteinander teilen. Wir bekehren niemanden, sondern bemühen uns einfach, Liebe und Frieden zu säen. Viele Muslime, die in unseren Schulen aufwuchsen und in unseren Werken mitarbeiten, tragen diese Erfahrung in sich und sind im Herzen im Grunde Christen – auch wenn sie das nicht laut sagen dürfen. Mit «Christsein» meine ich aber keine Konversion, sondern dass sie durch die gelebte Liebe Christus erlebt haben. Wenn sie sagen: «Schaut, wie sie einander lieben», ist damit unser Auftrag, unser Zeugnis erfüllt. Genau wie vor 2000 Jahren, als die Jünger Jesu in Antiochien – an der heutigen syrisch-türkischen Grenze – zum ersten Mal Christen genannt wurden. Das ist die eigentliche Bedeutung von «Martyrium»: Das griechische Wort martyría bedeutet schlicht Zeugnis, nicht Blut, Leid und Tod. Ein Märtyrer ist also nicht in erster Linie jemand, der für seinen Glauben stirbt, sondern der dafür lebt – und ein Zeugnis der Liebe ist.
Übrigens war das interreligiöse Zusammenleben bis vor zehn Jahren gang und gäbe: Wenn die Christen an ihren Feiertagen in Prozessionen durch die Strassen zogen, klatschten die Muslime am Strassenrand als Zeichen ihrer Teilnahme. Erst der Krieg und der daraus entstandene Fanatismus haben diese Harmonie zerstört. Und dennoch glaube ich: Unsere Zukunft liegt in der Gemeinschaft der Glaubenden – wenn wir Zeugnis geben können von der Geschwisterlichkeit zwischen den Religionen.

Was wünschen Sie sich von uns in Europa? Reicht es, zu beten und Geld zu schicken, oder bräuchte es mehr politisches Engagement für den Frieden im Nahen Osten?

Eure Gebete und humanitäre Spenden sind lebenswichtig – wir brauchen sie für Schulen, Krankenhäuser, Arbeitsprojekte und den Wiederaufbau unseres Landes. Aber das genügt nicht. Ich sage es offen: Die Politik der EU und Amerikas ist voller Heuchelei und Lügen. Man spricht von Frieden, liefert aber gleichzeitig Waffen an alle Kriegsparteien. Wenn die Mächtigen wirklich wollten, könnten sie Kriege wie in Gaza sofort stoppen – mit klarem politischem Willen und Druck. Eine Zweistaatenlösung, wie von der UNO versprochen, wäre meines Erachtens die einzige Lösung, aber da tut sich nichts, weil andere Machtspiele gespielt werden. Für Christinnen und Christen in Europa heisst das: Ihr dürft euch nicht mit dem unterzeichneten von Dokumenten zufriedengeben. Jesus sagte: «Selig, die Frieden stiften.» Ihr müsst für die Wahrheit auf- und einstehen und Frieden einfordern. Der Friede im Heiligen Land ist kein lokales Problem – er ist der Schlüssel zum Weltfrieden. Solange dort Unrecht herrscht, wird die Welt nicht zur Ruhe kommen. Wir alle müssen die Politik in die Verantwortung nehmen. Nur so kann aus Gebeten Wirklichkeit werden.

Mit 93 Jahren könnten Sie sich längst zur Ruhe setzen. Stattdessen reisen Sie um die Welt. Woher nehmen Sie die Kraft dafür und was hält sie geistig stark in all dem Leid?

«Wachet und wandelt in der Liebe», schreibt Paulus im Brief an die Epheser – das ist mein Lebensprogramm. Ich habe meine Priester, Bischöfe und das Volk immer dazu ermutigt, auszuharren. Aber dazu braucht es Nahrung, Wohnraum, Arbeit, Bildung – und weil all dies fehlt, kann ich nicht stillsitzen. Da muss und will ich aktiv werden. Meine innere Stärke schenkt mir Christus, das ist wirklich Gnade: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.» Diese Worte tragen mich seit meinem ersten Tag als Priester, und ich möchte sie mit meinem Leben weitergeben. Sie geben mir Energie, ja sogar körperliche Kraft. Ich bin auch dankbar, dass mich viele Freunde auf der Welt immer wieder einladen und nicht links liegen lassen. Solange ich kann, bleibe ich unterwegs – im Dienst an meinem Volk und als Zeugnis für den Frieden.

Patriarch Gregor III. Laham

Patriarch Gregor III. Laham ist seit 2017 emeritiert, also nicht mehr aktiv im Amt. Er wurde 1933 in Damaskus, Syrien, unter dem Namen Lutfi Laham geboren. Er gehört der melkitischen griechisch-katholischen Ostkirche an. Von 1981 bis 2000 war er 25 Jahre lang Bischof von Jerusalem, von 2000 bis 2017 war er als Patriarch das Kirchenoberhaupt des ganzen Orients von Jerusalem, Alexandrien bis Antiochien an der syrisch-türkischen Grenze. Er lebt heute meist im Süden Libanons, engagiert sich aber stark für Christinnen und Christen in seiner Heimat Syrien, die er oft besucht.

Der Patriarch war auf Einladung des Hilfswerkes «Kirche in Not (ACN - Aid to the Church in Need)» in Zürich. Es handelt sich dabei um ein internationales katholisches Hilfswerk päpstlichen Rechts. ACN wurde 1947 als «Ostpriesterhilfe» gegründet und unterstützt bedrängte Christinnen und Christen in etwa 130 Ländern durch Seelsorgeprojekte, Aufklärung und Gebet. Die Organisation wird von der Schweizer Bischofskonferenz für Spenden empfohlen und finanziert sich ausschliesslich durch private Beiträge.