
Ruedi Widmer
Ich bin lange zur Schule gegangen, sehr lange. Und ich hatte – mindestens in jenen Fächern, die mich nicht übermässig interessierten – stets den Durchschnitt im Blick: Eine 2 ist kein Problem, solange ich sie mit einer 5.5 kompensieren kann, die mich auf einen Schnitt von 3.75 bringt, der mit etwas gutem Willen zu einer 4 aufgerundet wird. Genügend war des Schülers Gut.
Ich habe dieses Ausgleichsmodell derart selbstverständlich gepflegt, dass ich heute vermute: Ablasshandel ist uns Menschen angeboren. Was uns misslingt, kompensieren wir mit Erfolgen. Verschwendung wird mit Askese schöngelebt. Und bei Lieblosigkeit gibt’s zum Ausgleich Blumen.
Erst als einer meiner Söhne sich zum Forstwart ausbilden liess, wurde mir bewusst, wie gefährlich Durchschnittsdenken sein kann. Einmal den Baum perfekt fallen lassen und einmal auf das Wohnhaus: Das gibt im Schnitt nie und nimmer ein Genügend. – Dies endlich erkannt, habe ich meine privaten Ablasshändeleien munter weiter getrieben. Ich fliege nicht, also erlaube ich mir das Internet leerzustreamen. Weil ich Bio kaufe, fällt die Plastikverpackung nicht ins Gewicht. Und weil ich darüber hinaus fair kaufe, brauche ich mir wegen Saison und Transportwegen nicht mein Köpfchen zu zermartern.
Kein Schlagrahm aufs Dessert gibt die Zusatzwurst bei der Grillade frei. Damit lässt sich unbeschwert leben. Das «Irgendwie-gehts-dann-schon-auf»-Gefühl unterstützt meinen seelischen Frieden ungemein. Und sobald ich anfange konsequent zu rechnen, fürchte ich die gnadenlose Härte in meinem Leben. Rigoros kompromissfrei ganz ohne Larifari, das ist auch nicht die Lösung.
Wäre da nicht mein Sohn der Forstwart. Mein Paradies der Ungenauigkeit zeigt seither Risse. Also habe ich eine Richtlinie aufgestellt: Mein Ablasshandel endet dort, wo die Verlustrechnung der anderen beginnt. Danach versuche ich beinahe fast ganz konsequent zu leben.