Erzählung einer Suche

Mit 13 erhält Muhammad Sameer Murtaza von seinem nicht-religiösen Vater einen Koran. Die Suche nach Wurzeln und neuen Wegen beginnt.

Unterwegs im Industriegebiet in der Nähe von Murtazas Wohnhaus.
Unterwegs im Industriegebiet in der Nähe von Murtazas Wohnhaus.

Es gibt sie nicht, die Christin und den Christen, die Jüdin und den Juden, die Muslimin und den Muslim. Glaube bedeutet stets suchen, finden, verfeinern, verwerfen – und weitersuchen. Glaubenswege sind individuelle Suchbewegungen. Das gilt auch für den Islam, obwohl er oft als unbeweglich gilt. Der Islamwissenschaftler und Philosoph Muhammad Sameer Murtaza erzählt hier seine Geschichte der Suche – die ihn bis zu Hans Küng geführt hat.

Muhammad Sameer Murtaza ist 13, als sein Vater ihm einen Koran überreicht. Der Junge ist überrascht, denn seine pakistanisch-deutschen Eltern sind nicht religiös – aber streng. Und nun hält er diesen Koran, Arabisch-Deutsch, in der Hand. «Man schaut rein und versteht diesen andersartigen Text nicht», sagt er. Gemeinsam mit einem deutschen, nicht-muslimischen Freund, dessen Eltern ebenfalls kontrollierend sind, sucht Muhammad Wege aus der familiären Enge. Sein Freund fühlt die Freiheit, wenn er Ladendiebstähle begeht. «Ich dachte irgendwann: Ich versuch das auch.» Muhammad lässt ebenfalls immer wieder etwas mitgehen. «Einmal, als ich einen Laden verliess – ich kann es nur so sagen –, fuhr ein Koran-Vers wie der Blitz einer himmlischen Aufforderung in mich. Das erschütterte mich so, dass ich wie ferngesteuert in die nächste Moschee lief. Es war eine türkische, der Imam sprach kein Deutsch – ich verstand also kein Wort.» Trotzdem fühlt er sich dort aufgehoben. Murtazas Interesse an Religion ist geweckt.

Der 1981 geborene Muhammad Sameer Murtaza ist für die von Hans Küng gegründete Stiftung «Weltethos» tätig. Als wissenschaftlicher Referent für das Bildungswerk Maimonides ist er auch im jüdisch-muslimischen Dialog aktiv.

Der 1981 geborene Muhammad Sameer Murtaza ist für die von Hans Küng gegründete Stiftung «Weltethos» tätig. Als wissenschaftlicher Referent für das Bildungswerk Maimonides ist er auch im jüdisch-muslimischen Dialog aktiv.

«Wäre ich damals auf Glaubenssuche gewesen … vielleicht wäre ich heute Christ.»

«Aber wer sagt mir, dass der Islam richtig ist?» Er liest viel über Religionen, besonders die abrahamischen – bleibt aber ratlos. Die Vernunft verlangt einen Beweis, um das Wagnis des Glaubens einzugehen. «In meinem Dorf hatte ein deutscher Mann ein Stück Land direkt am Waldrand gekauft. Er war Buddhist und lebte dort in einer Lehmhütte. Ich bin als Jugendlicher oft zu ihm gegangen.» Irgendwann – Murtaza ist ungefähr 16 Jahre alt – fragt er ihn: «Wie kann ich die richtige Religion finden?»  Zur Antwort erhält er: «Die Wahrheit zeigt sich dir, wenn dein Körper darauf reagiert. Wenn du Gänsehaut bekommst und sich die Härchen auf deinem Arm aufrichten, dann hast du die Antwort, die du suchst.» Der Teenager geht nach Hause, schlägt wieder seinen Koran auf – und ist körperlich berührt. «So ist das also«, sagt er sich. Und gleichzeitig: «Vielleicht kann ich ja beides leben. Tagsüber muslimisch und am Abend auf Partys gehen.»

Gedacht, versucht: Es ist Fasnacht, in einer Sporthalle feiert die Jugend des Ortes. «Da war ein betörend schönes Mädchen mit einem knappen Oberteil aus Alufolie. Alle tanzten fordernd um sie. Dieses Balzverhalten, an dem ich früher beteiligt war, wirkte nun leer.» Er beschliesst, ganz auf die Karte Religion zu setzen. «Aber wo lerne ich, als Muslim zu leben?«

Vom unreligiösen Elternhaus ist keine Hilfe zu erwarten, und in den Moscheen vor Ort wird kein Deutsch gesprochen. Mangels Alternativen sucht er sie weiterhin auf. Zufällig begegnet er eines Tages in der Moschee einer Gruppe Menschen, gekleidet in traditioneller pakistanischer Kleidung. Sie sprechen Deutsch, kommen aus Frankfurt und verbringen das Wochenende in dem Gotteshaus. «Wir sind eine Frömmigkeitsbewegung und lernen und lehren den Islam. Willst du das Wochenende mit uns in der Moschee verbringen?» Muhammad schliesst sich ihnen an, lernt islamische Spiritualität, Achtsamkeitsübungen und gute Verhaltensweise kennen.

Mit fast 18 stellt ihn sein Vater vor die Wahl: «Ich gehe zurück nach Pakistan. Kommst du mit?» – «Ich bin hier geboren, spreche kein Urdu. In Pakistan würde mich keine Zukunft erwarten.» So bleibt er zurück. «Das war aber sehr wunderbar, denn ich war ein so guter Schüler, dass ich mir herausnahm, selbst zu entscheiden, wann ich in die Schule gehe und wann nicht. So konnte ich mit der Frömmigkeitsbewegung stets mehrere Tage durch das ganze Land ziehen.» Zwei Jahre lebt er fast besitzlos. «In meiner Einzimmerwohnung schlief ich auf einer Bodenmatratze, ass ohne Besteck, übte mich in Achtsamkeit, um mich von Besitzstreben und Gier zu befreien. Wenn ich heute alles Materielle verlieren würde, wäre dies kein Verlust.» Bis heute schöpft er Kraft aus diesen Übungen. Dann erschüttern die Terroranschläge vom 11. September 2001 die Welt.

«Sag du mal was dazu«, fordert sein Geschichtslehrer den 19-jährigen Murtaza auf – plötzlich wird er auf sein Muslimsein reduziert. Er erlebt, wie Muslime unter Terrorverdacht geraten und sich «im Namen des Islam» rechtfertigen müssen. Er stellt sich der Herausforderung. Es folgen etliche Schulstunden, in denen Lehrer und Schüler hin und her diskutieren, ob der Islam das neue Böse sei. Doch bleibt das Gefühl der Ausgrenzung. Politische Fragen tauchen auf – in der apolitischen Frömmigkeitsbewegung findet er keine Antworten. Eine neue Suche beginnt.

Die fotografischen Einblicke in den muslimischen Alltag stammen aus der Reportage «Moin und Salam». Darin folgt der Fotojournalist Julius Matuschik den Spuren und Erzählungen muslimischen Lebens in Deutschland.

«Moin und Salam» Julius Matuschik (Bilder), Raida Chbib (Text) | Kerber 2024 | ISBN 978-3-7356-0952-6

www.juliusmatuschik.de

Fahrradtour durch Deutschland unter dem Motto «Muslime für Frieden».

Die Berliner Medizin-Studentin Säli und ihr Hobby: Longboard-Fahren.

Freitags­gebet in der afghanischen Moschee in Berlin-Reinickendorf.

«Es ist gut, Muslim zu sein. Ich muss mich nicht rechtfertigen, nicht entschuldigen, nicht schlecht fühlen.» Diese Botschaft vermittelt ihm der amerikanische muslimische Bürgerrechtler Malcolm X, der ihm in einem Fernsehfilm begegnet. Murtaza ist beeindruckt von der «Eloquenz und Macht des Wortes«, mit der Malcolm X für die Gleichberechtigung der Afro-Amerikaner in den USA kämpfte. «Ich wusste: Das ist meine Berufung – Reden, Vorträge, Schreiben.» Diesen Weg geht er bis heute. Seine Erkenntnisse prägen das Studium in Mainz. Unter der Woche studiert er Islam- und Politikwissenschaft, am Wochenende engagiert er sich gesellschaftspolitisch und sozial. Er gründet und leitet eine grosse muslimische Jugendgruppe, unterweist Jugendliche im Islam und hilft ihnen, auf ihrem Lebensweg weiterzukommen. Solche Initiativen entstehen zu dieser Zeit im ganzen Land, man nennt das Phänomen «Pop-Islam»: «Wir jungen Muslime wollten damals zeigen: Wir sind ein Teil der deutschen Gesellschaft und wollen uns einbringen.»

Mit 24 Jahren geht Muhammad Sameer Murtaza auf Forschungsreise nach Ägypten. Das Land steht unmittelbar vor Parlamentswahlen. Die oppositionellen Muslimbrüder erringen beachtliche Erfolge, die unter anderem auf ihrem sozialen Engagement im ganzen Land basieren. Murtaza schreibt seine Magisterarbeit über sie und interviewt hochrangige Mitglieder. «Ihr Slogan: Al-Islam huwa al-ḥall – Der Islam ist die Lösung (für alles). Doch ist dies nicht eine Überstrapazierung der Religion?» Also fragt er einen führenden Muslimbruder, wie sie das Müllproblem in Kairo lösen würden. «Der Mann wurde plötzlich ganz still und sagte: ‹Für dieses Problem haben wir keine Lösung.›» Murtaza denkt: «Wenn gläubige Menschen diese Partei wählen, aber sie versagt, dann trifft das auch ihren Glauben.» Ihm wird klar: Gläubige sollten sich politisch für eine bessere Welt engagieren, dürfen aber Religion nicht politisieren und ideologisieren. Zurück in Deutschland schreibt er seine Magisterarbeit – «kritisch, aber empathisch». So wie er bis heute forscht und schreibt.

Dann allerdings geschieht etwas, das sogar ihn, den Sprachmenschen, sprachlos macht: Muslimbrüder in Deutschland beginnen, ihn unter Druck zu setzen, reden ihn in seinen Netzwerken schlecht, ziehen hinter seinem Rücken über ihn her. Unmöglich dagegen anzukommen. «Und dabei sind wir doch eine Gemeinschaft, egal welcher Strömung wir angehören, und sprechen uns mit Bruder und Schwester an.» Dieser ungeschwisterliche Umgang setzt ihm zu. Murtaza ist immer noch jung und voller Idealismus. Er hat kein dickes Fell und weiss nicht, wie er mit diesen Angriffen fertig werden soll. Unterwegs in der Stadt, bekommt er plötzlich keine Luft mehr. Im Krankenhaus diagnostiziert man einen eingeklemmten Rippennerv – stressbedingt. Man behält ihn zur Beobachtung über Nacht da. In diesem schwierigen Moment lernt er eine wichtige Lektion: «Am Ende ist man alleine, auch in einer Gemeinschaft. Nur Gott verlässt einen nicht.» Murtaza zieht sich zwei Jahre aus seinen sozialen Beziehungen und der Jugendarbeit zurück, hört auf zu schreiben und Vorträge zu halten.

Kinder nach ihrem Islamunterricht in der  Imam-Cafer-Sadik-Moschee in Berlin Wedding.

Kinder nach ihrem Islamunterricht in der Imam-Cafer-Sadik-Moschee in Berlin Wedding.

Waschraum in der Omar-ibn-Al-Khattab- Moschee in Berlin.

Waschraum in der Omar-ibn-Al-Khattab- Moschee in Berlin.

Workshop für Gefängnisseelsorger und  -seelsorgerinnen des Niedersächsischen  Justizministeriums.

Workshop für Gefängnisseelsorger und -seelsorgerinnen des Niedersächsischen Justizministeriums.

Wieder eine Suchbewegung. Wieder ist es ein besonderer Mensch, der seine intellektuelle Suche ernst nimmt und ihm einen Schritt weiterhilft: der frühere deutsche Botschafter in Algerien und Marokko, Murad Wilfried Hofmann, spürt die Not des jungen Islam-Gelehrten, der ihn zu einem Vortrag eingeladen hatte. Hofmann ist 1980 zum Islam konvertiert, sehr belesen und hat mehrere Bücher über den Islam geschrieben. Beide kennen sich bereits vage durch einen Briefwechsel aus Murtazas Schulzeit. «Hofmann hat mich aufgefangen und wieder aufgerichtet. Anschliessend schubste er mich in die Richtung der islamischen Philosophie.» Später wird Murtaza zu den Philosophen Muhammad Iqbal und Friedrich Nietzsche promovieren.

Zwischen Hofmann und Murtaza entwickelt sich eine väterliche Freundschaft. Der ehemalige Botschafter lehrt ihn: «Muslime sollten die Botschafter der Propheten sein. Ein Botschafter spricht diplomatisch, vermittelt zwischen den Menschen und führt sie zusammen.» Vor seinem Tod 2019 vermacht er seinem Schüler seine Bibliothek.

In der Lektüre stösst Murtaza auf den Philosophen Jamal Ad-Din Al-Afghani, einem der Begründer der Islamischen Moderne: «Er war ein philosophischer Rockstar, voller Brüche und Geheimnisse, einer, der richtige und falsche Entscheidungen traf, Freundschaften gründete und zerbrach, der Revolutionen anzettelte, abstürzte und sich wieder aufrappelte.» Murtaza erkennt für sich: «Oftmals haben wir Gläubigen die wahnhafte Vorstellung, wir müssten makellos sein. Al-Afghani jedoch zeigt: Ein gelebtes Leben ist ein Leben voller Widersprüche und Brüche. Solange man im Studierzimmer verweilt, ist es einfach, perfekt gläubig zu sein. Aber das Leben findet draussen mit den anderen Menschen statt, wo Fehler erlaubt sind und man auch scheitern kann.» Daraus lernt er, dass ein toleranter Umgang innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft – und mit sich selbst – notwendig ist.

Murtaza muss sich sein Studium selbst verdienen, deshalb arbeitet er in den Semesterferien. Als an seinem Arbeitsort eine Nachbarin verstirbt, steht unversehens eine Kiste voller Bücher vor dem Haus. Man darf sich bedienen. «Darunter war das Buch <Christ sein> von einem gewissen Hans Küng. Ich hatte noch nie von ihm gehört.» Murtaza liest es und ist begeistert: «Die beste Einführung in das Christentum, die es gibt. Wäre ich damals auf Glaubenssuche gewesen … vielleicht wäre ich heute Christ.» Murtaza bleibt Muslim, aber er will Hans Küng unbedingt kennen lernen. Er ruft bei der von Küng gegründeten Stiftung «Weltethos» an und wird zu seiner Überraschung direkt durchgestellt. «Küng erklärte, er sei schon sehr alt und müsse seine letzten Dinge ordnen, deshalb habe er keine Zeit.» Murtaza kann das gut verstehen. Wenige Wochen später jedoch ruft die Stiftung zurück. Hans Küng habe nun doch Zeit für ihn. Dieser hatte wohl erste Publikationen und Vorträge Murtazas wahrgenommen, sein Interesse war erwacht.

Der 28-Jährige reist mit Fragen im Gepäck: «Von Homosexualität bis Koranexegese». Der junge und der alte Mann finden sich. Sie umkreisen und vertiefen die Themen in einer langen Diskussion. «Das war äusserst wertvoll für mich.» Und es ist der Beginn einer tiefen Freundschaft, in der sich Denken und Glauben befruchten. Küng lädt Murtaza ein, bei der Stiftung Weltethos mitzuarbeiten, wo er sich für den christlich-jüdisch-islamischen Dialog stark macht. Bis heute ist die Stiftung eines seiner beruflichen Standbeine.

Mit 38 steht er in Karachi vor dem weissen Mausoleum von Muhammad Ali Jinnah, dem Staatsgründer Pakistans. Als Kind war er schon in Pakistan in den Ferien. Nun hat ihn eine Forschungsreise wieder in das Herkunftsland seines Vaters geführt. Jinnah, ein Muslim wie er und im Westen ausgebildet, kämpfte auf friedlichem und politischem Weg für ein von den Briten unabhängiges Indien, zu dem Pakistan damals gehörte. Überall auf dem Gelände sind prodemokratische Zitate und Toleranzaufrufe des Staatsgründers angebracht. Murtaza ist sich des grossen Abstands zwischen Ideal und Realität bewusst. Und dennoch: Während Murtaza in Deutschland gegen die steigende Muslimfeindlichkeit ankämpft, beinahe 1000 Übergriffe allein 2017, fühlt er sich selbst immer weniger als Deutscher. Er erkennt: «Biografisch bin ich Teil der über 5000 Jahren alten Kultur des Subkontinents, die zugleich mehrere Religionsgemeinschaften umfasst. Meine Vorfahren waren sicherlich mal Hindus oder Buddhisten, die irgendwann zum Islam konvertierten. Mein Grossvater setzte sich für die Unabhängigkeit Indiens und die Gründung Pakistans ein. Das alles ist nicht wertlos. Hier sind meine Wurzeln, auch wenn ich nie in Pakistan leben werde. Niemand kann erwarten, dass man sich in einer zunehmend muslimfeindlichen Gesellschaft zuhause fühlt. Dennoch ist es die Pflicht eines Muslims aus Nächstenliebe heraus, dort wo man lebt, sich für das Wohl der Menschen, aller Menschen, einzusetzen.»

Zurück in der Gegenwart ist es Mittag geworden. Murtaza unterbricht die Erzählung seiner Suchbewegung, der man gerne noch lange und noch vertiefter folgen möchte. Er steht vom Esstisch im Wohnzimmer auf, das in sein Arbeitszimmer mündet. «Meine Bibliothek, das ist mein Wohlfühlort. Da ist alles, was mich in materieller Hinsicht glücklich macht: Bücher, Bücher, Bücher.» Mit freundlichen Worten lässt er die zwei Familien-Katzen herein und gibt ihnen Futter. Dann macht er sich auf den Weg, um seine zweijährige Tochter in der Kita abzuholen. «Aber ganz zuletzt ist kein physischer Ort wirklich wichtig. Wir kommen alle irgendwo her. Muslim kann ich überall sein. Mein eigentlicher, mein unverzichtbarer Ort sind meine Frau und meine Tochter, die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben.»