Fühlen Sie sich nach 15 Jahren in Rom bereits als Römer?
Nein. Beziehungsweise: Es kommt darauf an, was das heisst, Römer zu sein. Natürlich habe ich mich an römische Gewohnheiten angepasst, das Mittagessen gibt es nicht um 12.00 Uhr, sondern erst um halb drei und zu Abend wird erst um acht gegessen. In diesem Sinne bin ich Römer geworden – aber im Blick auf die Mentalität, auf vieles, was den Römer auszeichnet, da bin ich Schweizer geblieben.
Was zeichnet den Römer aus?
Eine gewisse Flexibilität. Es gibt Prinzipien, die man unter Umständen auch einhalten kann.
Was schätzen Sie am Leben in Rom?
Die Lebendigkeit, die Unkompliziertheit und die Freundlichkeit der Leute.
Was vermissen Sie vom Leben in der Schweiz?
Am meisten die Berge und die Seen. Ich bin immer gern gewandert.
Haben Sie einen Lieblingsgipfel?
Nein, bis in die Gipfel bin ich nicht gegangen. Ich bin eher auf den kleinen Hügeln gewesen.
Wie hat sich Ihr Blick auf die Schweiz verändert, seit Sie im Vatikan beziehungsweise in Rom leben?
Naturgemäss hat sich mein Blick verändert, weil ich nun auf Medien angewiesen bin und auf einzelne Besuche, die ich aus der Schweiz habe. Ich bin nicht mehr so unmittelbar drin in all den Angelegenheiten.
Fällt Ihnen etwas neu auf?
Nein, ich sehe nicht viel Neues, das mir nicht bekannt gewesen wäre von meiner Zeit in der Schweiz.
Wie wirkt die Schweizer Kirche aus der Ferne auf Sie?
Das ist wirklich schwierig zu sagen, weil ich keinen unmittelbaren Einblick mehr habe. Ich kann sagen, dass ich die Kirche sehr vielfältig wahrnehme, mit bedeutenden Unterschieden zwischen den Bistümern in den Sprachregionen. Meines Erachtens sollte man diese Unterschiede wahr- und ernstnehmen – und dann fragen, wie man in dieser Vielfalt zusammen Kirche sein kann.
Welche Rolle spielt die Schweiz im Vatikan?
Einen besonderen Status hat sie, glaube ich, nicht. Durch die Schweizergarde hat sie natürlich eine spezielle Bedeutung im Vatikan. Die Garde spielt eine wichtige Rolle und die Päpste schätzen ihre Präsenz. Sie führt dazu, dass es verschiedene Kontakte gibt, vor allem, seit die Schweiz nun eine eigene Botschafterin beim Heiligen Stuhl hat. Das ist relativ neu und hat die Beziehungen nochmals intensiviert.
Angesichts des dualen Systems wird die Katholizität der Kirche in der Schweiz auch in Frage gestellt. Wird die römisch-katholische Kirche als solche im Vatikan ernst genommen?
Natürlich. Sie wird ernst genommen, so wie sie ist. Das ist nicht immer leicht, da das staatskirchenrechtliche System charakteristisch ist – und einmalig, das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Wenn man beispielsweise in Rom hört, dass eine Synode etwas entschieden hat, dann heisst es: «Wie kann der Bischof das gut heissen?» Da muss ich dann erklären: «Der Bischof hatte in diesem Fall nicht viel oder nichts zu sagen. Es gibt ein anderes Verständnis von Synode.»
Sie fungieren also auch als «Botschafter» oder Übersetzer der Schweizer Realität im Vatikan?
Eigentlich habe ich diese Rolle umgekehrt eher in der Schweiz: Dort muss ich immer wieder betonen, dass ich nicht der Chef der Schweizer Bischöfe bin, nur weil ich in Rom arbeite und Kardinal bin. Menschen wenden sich mit Anliegen an mich und wünschen sich, dass ich in Schweizer Bistümern interveniere. Da muss ich dann sagen, dass dies nicht meine Aufgabe ist.
Kurt Koch (*1950) ist seit 2010 Präfekt, also Vorsteher des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen. Er ist also «Ökumene-Minister» des Vatikans. Er ist Kardinal und gehört damit dem engeren Beraterkreis des Papstes an. Ab 1995 war er Bischof von Basel. Koch ist in Emmenbrücke im Kanton Luzern aufgewachsen.
Zurück zur Schweiz im Allgemeinen: Gibt es für Sie so etwas wie «Swissness», also etwas, was die Schweiz auszeichnet?
Da sehe ich die Schweizergarde vor mir. Sie repräsentiert für mich die Schweiz und sie ist so etwas wie ein Aushängeschild.
Wofür steht die Schweizergarde?
Für Zuverlässigkeit und Standfestigkeit. Wer einmal in Rom war und Schweizergardisten gesehen hat, wird das Bild der Schweiz immer auch mit ihnen in Verbindung bringen. Das habe ich wiederholt festgestellt.
Was ist für Sie die wichtigste Schweizer Errungenschaft?
Die direkte Demokratie, die es so in anderen Ländern nicht gibt. Sie lebt aber nur, wenn sie auch wahrgenommen wird.
Lassen Sie uns zu Ihnen und Ihren Aufgaben kommen. Zunächst: Sie sind im März 75 Jahre alt geworden. Worüber haben Sie sich zu diesem Anlass besonders gefreut?
Dass ich noch gesund bin und arbeiten kann.
Das freut uns! Wenn Sie auf Ihre Lebensjahre zurückblicken, was haben Sie gelernt?
Ach je, das ist sehr vieles! Weil die Aufgaben, die ich hatte, so verschieden waren. Ich war erst in der Seelsorge, dann an der Universität, danach Bischof von Basel, dann hier in Rom. Ich musste mich immer wieder in eine Aufgabe hineinversetzen und hinein üben.
Hatten Sie eine Lieblingsaufgabe?
An der Universität als Lehrer. Das habe ich sehr gern gemacht. Aber auch das Amt als Bischof war schön und die jetzige Aufgabe ist es auch. Sie sind einfach verschieden, aber jede hat ihre schöne Seite.
Was ist die Herausforderung in Ihrer gegenwärtigen Aufgabe, als Vorsteher des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen?
Dass wir in den verschiedenen Dialogen, die wir führen, die Einheit im Glauben wiederfinden.
Gibt es im Rückblick etwas, das Sie heute anders machen würden?
Es gibt sehr viel, das man anders machen würde. Aber das ist jetzt keine Beichte, nicht wahr?
Natürlich nicht, verzeihen Sie. Dann machen wir an einer anderen Stelle weiter: Was ist Ihre grösste Sorge im Blick auf die Kirche?
Das ist in verschiedenen Gebieten anders: Die Kirche ist so vielfältig in den Ländern und auf den Kontinenten – da ist es schwierig, generell etwas zu sagen. Von der Weltkirche her gedacht ist meine Sorge, wie das Ganze, die riesige Vielfalt, die wir in der Kirche haben, so zusammengehalten werden kann, dass es die eine Kirche bleibt.
Was braucht es dazu?
Wir müssen lernen, was es heisst, Einheit in der Vielfalt zu leben. Das ist eine ganz grosse Herausforderung. Schon der französische Denker Blaise Pascal hat in seinen «Pensées» – «Gedanken» geschrieben: Einheit, die nicht von Vielheit abhängt, ist Diktatur. Vielheit, die nicht von Einheit abhängt, ist Anarchie. – Wir müssen immer wieder einen Weg zwischen Diktatur und Anarchie finden. In der Kirche ist das eigentlich eine grosse Herausforderung, weil wir die Einheit nicht irgendwo suchen und finden wollen, sondern im Glauben. Damit haben wir von vornherein eine gemeinsame Basis – auch wenn dieser Glaube dann immer wieder verschieden interpretiert wird.
Kommen wir zum neuen Papst, zu Leo XIV. Sie kennen ihn persönlich. Wie würden Sie ihn charakterisieren?
Ich empfinde ihn als einen sehr offenen, freundlichen und dialogbereiten Menschen. Er war ja Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe. Ich bin dort Mitglied. Dort habe ich ihn erlebt, wie er aufmerksam zuhört. Wenn es um die Bestellung von neuen Bischöfen geht, muss nämlich jedes Mitglied seine Meinung abgeben – und er musste dann eine Synthese machen, die Überlegungen zusammenführen, und natürlich seine eigene Sicht auch einbringen. Er hat das immer in grosser Offenheit getan.
Was erwarten Sie von Papst Leo in der Ökumene, im Dialog mit anderen Kirchen?
Als Bischof hat er ein sehr schönes Motto gewählt, dass wir nämlich in aller Vielfalt eins sind in Christus. Dieses Motto hat er zunächst für seinen Bischofsdienst in der katholischen Kirche gesetzt, aber es gilt natürlich auch für die Begegnung mit anderen christlichen Kirchen. Er hat dieses Anliegen dann auch deutlich gemacht bei der Audienz mit den Vertretern und Vertreterinnen anderer Kirchen, die bei seiner Einsetzungsfeier dabei waren. Es waren übrigens sehr viele dabei, etwa 70 Repräsentanten anderer Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften.
Erhoffen Sie sich auch etwas Konkretes vom Papst?
Es ist zu früh zu sagen, in welche Richtung er gehen möchte. Bislang habe ich noch nicht über Ökumene mit ihm sprechen können. Das wird hoffentlich bald geschehen.
Sie haben die vielen Repräsentanten anderer Kirchen an der Einsetzung erwähnt. War unter diesen ein Überraschungsgast, jemand, mit dem oder der sie nicht gerechnet hätten?
Nein. Ich war dankbar, wie viele persönlich gekommen sind und dass es ihnen ein Anliegen war, nicht einfach einen Repräsentanten zu schicken: zum Beispiel der ökumenische Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus I., der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem, Theopilos III und Patriarch Mar Awa III. der Assyrischen Kirche des Ostens.
Papst Leo macht Frieden zu einem zentralen Thema seines Pontifikats. Welche Rolle kann der Vatikan spielen?
Zunächst war das erste Wort, das Papst Leo auf der Segensloggia gesprochen hat, ein Zitat aus dem Johannesevangelium: Christus, der Auferstandene, kommt zu den Jüngern und sagt: «Friede sei mit euch». Das hat eine religiöse Dimension, die nicht sofort und allein politisch interpretiert werden darf. Es geht zunächst also um jenen Frieden, den die Welt nicht geben kann, wie das Johannesevangelium sagt, den nur Gott geben kann. Natürlich hat das aber politische Konsequenzen und ich bin überzeugt, dass Papst Leo im Dienst des Friedens stehen will, weil er das ja nun wiederholt betont hat – wie das eigentlich alle seine Vorgänger seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil getan haben und weiter noch zurückgehend bis Leo XIII., der sich auch intensiver Friedensbemühungen angenommen hat.
Gibt es etwas, das Sie in Ihrer Rolle als Präsident des Rates zur Förderung der Einheit der Christen noch realisiert sehen möchten?
Wir haben im vergangenen Jahr eine grosse Publikation herausgebracht, sie trägt den Titel «The Bishop of Rome», «Der Bischof von Rom». Wir führen damit die Einladung von Papst Johannes Paul II. aus der Ökumene-Enzyklika «Ut unum sint» im Jahre 1995 weiter, in der er sich an alle Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gewandt hat. Er wollte mit ihnen in einen Dialog kommen über eine neue Praxis des Bischofs von Rom: mit dem Ziel, dass der Primat, der Vorrang des Bischofs von Rom kein Hindernis für die Verständigung mehr wäre, sondern eine Möglichkeit, eine Hilfe für den ökumenischen Dialog. Wir haben unser Dokument nun allen christlichen Kirchen zugestellt und warten auf ihre Antwort.
Welchen Wunsch verbinden Sie damit?
Dass durch dieses Dokument auf beiden Seiten – auch auf unserer römisch-katholischen Seite – eine Auseinandersetzung ausgelöst wird: Wie gestalten wir die Praxis des Primats des Bischofs von Rom so, dass er von anderen christlichen Kirchen angenommen werden könnte?
Müsste der Papst dafür nicht auf gewisse Ansprüche verzichten?
An welche denken Sie?
An den Anspruch, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein, zum Beispiel. Oder an eine Vorstellung von päpstlichem Primat, die ihn nicht zu einem macht unter gleichen, sondern eben zum ersten unter gleichen.
Mit den orthodoxen Kirchen ist uns gemeinsam, dass der Bischof von Rom der erste unter den Bischöfen ist. Die strittige Frage hingegen ist, welche Kompetenzen der Erste hat. Darüber müssen wir diskutieren. Es gibt orthodoxe Theologen, zum Beispiel Professor Grigorios Larentzakis an der Universität Graz, die dafür plädieren, dass das Petrusamt gewisse Kompetenzen haben muss, um handlungsfähig zu sein. Welche das sein werden, müssen wir im Dialog herausfinden, das können wir als römisch-katholische Kirche nicht alleine beschliessen.
Und die reformatorischen Kirchen?
Da ist die Ausgangslage eine andere, es gibt diese grundlegende Gemeinsamkeit wie mit den Orthodoxen nicht. Mit den reformatorischen Kirchen müssen wir zunächst über das Verhältnis von Lokalkirche und Universalkirche sprechen. Denn nur, wenn wir einen Konsens finden würden über die Universalität der Kirche, macht eine Diskussion über das Papstamt überhaupt Sinn.
Was ist der wichtigste Auftrag Ihres Rates?
Wir stehen im Dialog. Wir haben in unserem Rat zwei Abteilungen, die Abteilung Ost und die Abteilung West. In der Abteilung Ost haben wir zwei grosse Dialoge mit allen orientalischen und mit allen orthodoxen Kirchen. In der Abteilung West haben wir insgesamt zwölf verschiedene Dialoge mit den aus den Reformationen hervorgegangenen Kirchen. Diese Dialoge gilt es so weiterzuführen, dass wir die Einheit im Glauben wiederfinden können.
Das Gespräch wurde digital am 26. Mai 2025 geführt.