Thérèse Martin ist vier Jahre alt, als ihre Mutter an Brustkrebs stirbt. Die glückliche Kindheit, die Thérèse bis dahin erlebte, endet an diesem 28. August 1877. Noch am Tag der Beerdigung entscheidet sie: «Für mich wird Pauline Mama sein.» Die Bindung zu Pauline, ihrer elf Jahre älteren Schwester, wird nun die wichtigste in Thérèses Leben: Pauline vertraut sie ihre geheimsten Gedanken an, und wenn sie krank wird, darf sie in Paulines Bett schlafen. Doch bald verliert Thérèse auch ihre zweite Mutter: Pauline will Nonne werden und in den Karmel von Lisieux eintreten. Der Gedanke an die Trennung schmerzt Thérèse so sehr, «als hätte sich ein Schwert in mein Herz gebohrt», wie sie sich in ihrer «Geschichte einer Seele» später erinnern wird. «In einem Augenblick begriff ich, was das Leben ist, […] ich sah, dass es nur Leid ist und beständige Trennung.» Die jüngste von fünf Schwestern muss früh gross werden.
Schon als kleines Kind soll Thérèse den Wunsch verspürt haben, Nonne zu werden. Jetzt wird der Wunsch akut. Sie möchte unbedingt in dasselbe Kloster eintreten, in dem Pauline – nun als Schwester Agnès de Jésus – lebt. Den Segen ihres Vaters hat sie, doch weder der Pfarrer noch der Bischof erlauben es, weil sie zu jung ist. Aber Thérèse hat einen starken Willen und eine feste Überzeugung. Um die Angelegenheit zu forcieren, nimmt sie an einer Wallfahrt nach Rom teil. Als sie am Sonntag, dem 20. November 1887, bei der Audienz vor Papst Leo XIII. kniet, nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen: Obwohl es strengstens verboten ist, spricht sie den Papst an und bittet ihn um Erlaubnis, als Fünfzehnjährige in den Karmel von Lisieux eintreten zu dürfen – mit Erfolg. Am 9. April 1888 wird sie im Kloster aufgenommen und sagt zu sich mit tiefer Freude: «Nun bin ich hier für immer, immer!»

Agata Marszałek
«In einem Augenblick begriff ich,
was das Leben ist …»Thérèse von Lisieux(2.1.1873–30.9.1897)
Thérèse glaubt, die Zeit ihres Leidens, ihrer «Prüfungen», sei nun vorbei. Die Klosterregeln sind zwar streng, doch sie befolgt sie gern. Nur von der Priorin wird sie streng behandelt wie eine Erwachsene, obwohl sie die mit Abstand Jüngste im Konvent ist. Ihre ersten Schritte im Karmel resümiert sie: «Es begegneten mir mehr Dornen als Rosen.» Ihr werden niedere Arbeiten zugeteilt, obwohl sie gebildet ist und mehr könnte. Thérèse verbringt ein glanzloses Leben. Sie leidet psychisch, auch physisch, lässt sich aber nichts anmerken, denn sie weiss, dass auch ihre Mitschwestern es nicht leicht haben, und sie möchte niemanden auch noch mit ihren Sorgen belasten. Ohnehin, glaubt Thérèse, neigen die Karmelitinnen zu stark zur Selbstbetrachtung.
Eine Novizin wird ihr bald zur Freundin. Mit der Zeit aber ändert sich ihr freundschaftliches Verhältnis: Thérèse besitzt die Fähigkeit zu deren geistlicher Begleiterin. Auch die Mitschwestern erkennen das. Als Pauline – Schwester Agnès – fünf Jahre nach Thérèses Eintritt zur Vorsteherin des Klosters gewählt wird, setzt diese sie deshalb bei der Ausbildung der Novizinnen ein. Thérèse sieht das aber nicht als Beförderung an: «Ich bin ein kleiner Pinsel, den Jesus gewählt hat, um sein Bild in den Seelen zu malen», die ihr im Kloster anvertraut werden.
Wegen solcher Sprachbilder und dieser demütigen Haltung wird Thérèse später oft verniedlicht und verkitscht werden. Daraus spricht aber eine neue geistliche Haltung: Viele brachten damals Sühnopfer für die Sünden der Menschen, um das darüber betrübte Herz Jesu zu versöhnen, oft aus Angst und mit Skrupeln, dabei nicht genug zu tun. Diese hat Thérèse auch, bis sie erkennt, dass es weder auf Gebetsleistungen ankommt noch darauf, sich für andere völlig aufzuopfern. Thérèse will Jesus nachahmen, der nicht nur für die Menschen da ist, sondern wie ein Bruder mit ihnen ist. Bei dieser geistlichen Haltung genügt der gute Wille. Für Thérèse bedeutet dann «Himmel» die Lebens-Erfahrung des Glaubens mitten im Alltag. Deshalb muss sich dieser «kleine Weg» der Spiritualität auch dort, im Alltag bewähren: Begegnet sie der Mitschwester, die sie unsympathisch findet, lächelt sie auch diese an. Weil sie Jesus wie einen Bruder liebt, den sie in jedem Menschen wiedererkennt, fällt ihr das leicht.
In Thérèses Aufzeichnungen zeigt sich eine sehr komplexe, manchmal neurotisch wirkende junge Frau mit vielen Facetten: Ihre Marienverehrung beispielsweise wirkt, als ob sie den Verlust der Mutter kompensiert, und ihr beharrlicher Wunsch, in den strengen Karmel einzutreten, erscheint wie Weltflucht; auch ist sie Novizinnen gegenüber schonungslos offen, aber als Schwerkranke gaukelt sie ihrer Schwester Céline vor: «Ich habe eine eiserne Gesundheit.» Geradezu unvernünftig ist ihr Umgang mit der eigenen Krankheit.
Thérèse stirbt mit 24 Jahren. Sie hat weder Wunder gewirkt noch Predigten gehalten oder missioniert. Sie war nur ihren Schwestern nah. Was sie dort im Kleinen angestossen hat, setzte sich im Grossen in der ganzen Kirche fort: 1923 wird sie selig- und 1925 heiliggesprochen.
Eine Fassung mit Quellenangaben und Literatur liegt in der Jesuitenbibliothek Zürich bereit.