Frau Renz, es ist für viele schwierig geworden, den Mut zur Hoffnung nicht zu verlieren. Dennoch beschreiben Sie in Ihrem neuen Buch «Perlen der Hoffnung», «die durch scheinbar Unmögliches hindurch entstanden sind». Hoffnung entsteht durch Leiden, so sind Sie überzeugt. Das klingt paradox.
Es ist nicht das Leiden selbst, welches so tief berührt, dass Hoffnung aufbricht. Keineswegs! Vielmehr führt extremes Leiden an einen Punkt, an dem Menschen wirklich loslassen.
Was lassen diese Leidenden denn los?
Was sie dachten, wollten, wie sie glaubten zu sein. Sie stehen am Nullpunkt und damit vor der Gretchenfrage schlechthin: Ist da etwas oder ist da nichts? Gibt es vielleicht eine Antwort von innen? Dieser Punkt ereignet sich wiederholt, manchmal mehrmals täglich, manchmal nach langer Durststrecke. Ich kann nur sagen, dass ich diese Erfahrung mit mehreren Hundert Menschen erleben durfte, manchmal auf das Sterben hin, aber auch mitten im Leben, in Lebenskrisen. Menschen erleben oft unvermittelt von innen her Zuversicht, etwa ein liebendes Gewiegt-werden. Oder sie sehen ein Licht, eine wunderbare Blumenwiese oder hören im Traum eine ehrwürdige Stimme sagen: «Du bist meine vielgeliebte Tochter». Da ist gleichsam die Quelle allen Seins, Gott in ihr Leben eingebrochen, und von daher ist Hoffnung wie gegeben.
Hoffnung sozusagen als Voraussetzung menschlichen Sein?
Genau.
Zeigt sich diese Erfahrung der tragenden Hoffnung auch, wenn es auf den Tod zugeht?
Ja. Menschen sind etwa wider Erwarten gelassen oder fröhlich. Viele Sterbende sterben still, vielleicht mit einem Laut nach etwas für sie offenbar Wichtigem. Einige wenige bekunden ein ganz anderes Sein und sehen etwa ein Licht, Regenbogenfarben, einen Garten, einen gedeckten Tisch oder fühlen sich schwerelos glücklich. Andere wenige erleben »Beziehung«, so etwas wie Würdigung oder ein Geliebt-Sein. Sie sehen etwa eine Krönung oder hören eine Stimme, die sagt: «Du hast es so gut gemacht im Leben» oder empfinden sich «gehalten». Eine Frau sah eine grosse bergende Hand. In solchen Bildern gehen Sorgen auf. Natürlich sind dies wenige Menschen, doch diese sind, wenn man über tausend Sterbende begleitet hat, dann doch recht viele. Und das hat mich überwältigt, Mal um Mal. In all dem bezeugen Sterbende ein Verbundensein.
Können Sie dieses Verbundensein näher beschreiben?
Das ist wie ein Wackelkontakt: Ich bin bisweilen angeschlossen ans Göttliche, so wie der PC ans Netz, in anderen Momenten falle ich heraus aus dieser Verbundenheit. Wenn wieder angeschlossen, sagen die Menschen, dieses Göttliche, andere oder die daraus spürbare Hoffnung sei um Kategorien grösser als unser Denken. Es übersteigt uns.
Können Sie von einem Beispiel erzählen?
Ein Mathematiker, der im Sterben lag, fragte mich nach Zahlenverhältnissen. Wie verhält sich die andere Welt zur unsrigen? Dann hatte er innerlich etwas geschaut, und als ich ihn nach Zahlenverhältnissen fragte, beschrieb er mit letzter Kraft «tau-se-nd» (nicht dreimal schöner als unsere Welt sei das Geschaute – 1:3 –, sondern 1:1000 mal). Als wollte er mir sagen: Was haben Sie denn für kleinkarierte Vorstellungen. Berührt von solch inneren Erfahrungen, tragen wir unser Schicksal und sind zugleich getragen.
Was ist für Sie Hoffnung?
Erstens ein Offensein, dann die Lebens- und Sprengkraft, die uns nach vorne bewegt. Hoffnung ist unbegründet, etymologisch verwandt mit hoppeln - auf Englisch «hope» - hüpfen. Nicht die Realitäten berechtigen zur Hoffnung, sondern die Hoffnung verändert die Realitäten – wie das Kind der schwangeren Frau.
Ein Baby ist mit guten Hoffnungen auf Zukunft hin konnotiert. Lebenskrisen und Krankheit weisen oft in die entgegengesetzte Richtung…
Für Menschen mit schwersten Biografien und grossen Leiden ist Hoffnung identisch mit Sinnhaftigkeit: Diese Menschen haben selten mehr Spass. Aber dass ihr Dasein, ihr Aushalten, ihr innerer Weg für etwas Grösseres sinnhaft sei, erfüllt sie mit Daseinsfreude. Hoffnung entsteht, wenn ich berührt bin von etwas Grösserem, dann fühle ich mich eingebunden, wertvoll, geliebt. Und die Hoffnung fliesst.
Kann man den Schöpfungsprozess als Bogen verstehen, der sich im Sterben wieder schliesst?
Ja. Ich wehre mich aber gegen Aussagen wie «der Tropfen fällt wieder zurück ins Meer». Ich bin ja sozusagen Anwältin für schwer leidende Menschen. Für sie liegt es nicht drin, dass sie viel gelitten haben und am Ende einfach wie ein Tropfen zurück ins Meer fallen. Ihr Leiden will gesehen und sinnhaft sein. Und genau das geschieht in solch inneren Erfahrungen. Als Mitmensch kann ich da nur staunen, danken und mit Respekt vor meinem Gegenüber erfüllt sein. Nicht falsches Mitleid, sondern Hochachtung.
Wie können Sie angesichts solcher Biografien von Hoffnung reden?
Genau schwer leidende Menschen und Sterbende lehren mich das. Berührt von Gott, vom Göttlichen, kommt in ihnen Hoffnung zum Tragen. Hoffnung als Vorgabe menschlichen Seins. Und wenn selbst Menschen mit solchen Biografien Sinn, Hoffnung, Gelassenheit finden, gibt uns dies Hoffnung für viele Opfer und für die Kriegsschauplätze dieser Welt.
Das werden viele nicht nachvollziehen können.
Auch Menschen in der weiten Welt werden solchermassen vom Göttlichen berührt. Oder man frage: Wie kommt es eigentlich zu Umwendungen in der Politik oder zu gelingenden Friedensaktionen, zu bahnbrechender Kunst und Literatur? Immer gehen Ideen den Taten voraus. Und wegweisende Ideen wiederum empfangen Menschen genau dann, wenn sie offen und dann solchermassen berührt sind: Hoffnung, Ideen, Geist und Tatkraft brechen richtig auf. Mir fällt mein Bruder Patrick Renz ein, der an 9/11 in New Jersey nahe dem Terroranschlag war und dann Brötchen sammelte, bestrich und diese mit Booten nach Manhattan zu den Isolierten bringen liess. Ich selbst stehe, wenn berührt, morgens um fünf Uhr auf und schreibe. Ich habe nochmals ein Buch geschrieben, um meine wichtigsten Erkenntnisse erneut zu sagen. Einer meiner Patienten war Politiker, auch bei ihm kamen Ideen genau so, berührt vom Letzten. Er mochte das nicht Gott nennen, das ist auch nicht wichtig. Aber die Demut, sich selbst und verletzt zu sein und die Grösse, sich berühren zu lassen, ist bedeutsam.
Wie sind diese Perlen der Hoffnung im stressigen, durchgetakteten Alltagsgetriebe des Lebens zu finden?
In Momenten dazwischen, die es in jedem Leben immer wieder gibt. In einem Traum oder in einer leisen inneren Stimme, die einen ermutigt und sagt, fahre weiter, bleibe in der eigenen Kraft – treu. Wo ich nicht mehr hoffen kann, kann ich aber noch treu sein, etwa in einer wichtigen Sache. Durchbrüche der Hoffnung finden wir aber auch in berührender Musik, einem entsprechenden Gottesdienst, in tiefen Begegnungen mit einem Menschen, in der Natur und mit einem Hund. Im Buch beschreibe ich konkrete Wege dahin: «es» geschieht etwa über die therapeutisch-spirituelle Begleitung, über den Glauben aus Erfahrung, Glaubensgemeinschaften, über das Geliebtwerden, über die Vergebung.

zvg
erschienen 2025
im Herder Verlag
ISBN 978-3-451-60151-4
aus der Buchbeschreibung:
«Dieses Buch erzählt von Erfahrungen, die in unzählig vielen Menschen Hoffnung aufbrechen liessen: in Kranken, Sterbenden und spirituell Suchenden mitten im Leben. Es nimmt Fragen aus 30-jähriger Arbeit auf.»