Weltpolitik in Zürich: Der Palästinenser Daoud Nassar ist am 18. Juni in die Stadtzürcher Pfarrei St. Theresia per Videoanruf zugeschaltet, anstatt gemeinsam mit seinem Sohn Bishara Nassar live einen Vortrag zu halten. Aufgrund der vor wenigen Tagen ausgebrochenen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Iran konnten sie das Westjordanland nicht verlassen.
Die aktuelle internationale militärische Gewalt wie auch das Geschehen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten stehen in krassem Widerspruch zur Haltung der Familie Nassar. Sie leben den gewaltlosen Widerstand. Und sie weigern sich, Feinde zu sein. So erzählt Daoud Nassar mit ruhiger Stimme vom«Tent of Nations» aus, dem «Zelt der Völker», während ihm in Zürich ein gutes Dutzend Personen betroffen zuhört. Da Nassar als Kind eine lutheranische Schule besuchte, zweieinhalb Jahre lang in Österreich zur Schule ging und ein Jahr lang in Deutschland studierte, spricht er fliessend Deutsch. «Tent of Nations» - so nennen sie das Projekt auf dem Grundstück ihrer Familie, das sich auf einem Hügel rund neun Kilometer von Bethlehem entfernt befindet. Von dort aus seien Gaza und das Mittelmeer zu sehen.
Was die Familie von Daoud Nasser erlebt, ist exemplarisch für das Schicksal unzähliger palästinensischer Familien: Ihr Grundstück liegt in der C-Zone und ist von fünf israelischen Siedlungen umgeben, die während der vergangenen Jahrzehnte völkerrechtswidrig erstellt worden sind. In den vergangenen Monaten seien zwei neue Aussenposten hinzugekommen. Es war Daoud Nassars Grossvater, der die 42 Hektaren Land 1916 erwarb und sich noch unter osmanischer Herrschaft als Eigentümer registrieren liess. Ein Vorgehen, auf das damals viele Palästinenser verzichtet hatten, da mit dem Landtitel das Bezahlen von Steuern verbunden war. Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs erhielt die Familie von den Briten während der britischen Mandatszeit ebenfalls einen Landtitel. Dennoch erklärte Israel 1991 das Grundstück der Familie Nassar zum Staatsgebiet. Seither kämpft die Familie auf juristischem Weg dafür, dass ihre Landtitel und damit sie als Eigentümer des Landes anerkannt werden.
Hintergründe zur Zonen-Aufteilung der Gebiete
Seit dem Oslo II-Abkommen von 1995 sind die palästinensischen Gebiete in A-, B- und C-Zonen aufgeteilt. Die A-Zone (18 Prozent der besetzten palästinensischen Gebiete) wird von der palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert, die B-Zone (20 Prozent) steht unter der administrativen Kontrolle der Palästinenser, für die Sicherheitskontrolle ist Israel verantwortlich, die C-Zone (62 Prozent des Gebiets) befindet sich vollumfänglich unter israelischer Kontrolle.
Auf ihrem Land wachsen unter anderem Olivenbäume, Weintrauben und Mandelbäume. Doch immer wieder kommt es zu Gewalt durch radikale Siedler. «Sie haben schon Bäume gefällt und uns mit Waffen bedroht. Auch versuchten sie, eine Strasse zu bauen. Als wir sie davon abhalten wollten, hatten sie 250 Olivenbäume zerstört», erzählt Daoud Nassar. Damals erfuhr eine englische jüdische Organisation davon. Sie schenkten der Familie Nassar daraufhin 250 Olivenbäume, die sie gemeinsam anpflanzten.
Die Nassars sind nur dann vor der Gewaltanwendung jüdischer Siedler geschützt, wenn internationale Volontäre vor Ort sind. «Volontäre sind der einzige Schutz, den wir haben», sagt er. Eindringlich bittet er darum, dass Menschen aus Pfarreien oder andere Interessierte zu ihnen kommen, um für einige Tage bis hin zu einigen Monaten mit ihnen zu arbeiten, zu leben und mit auf die Patrouillengänge zu gehen.
Die Nassars versuchen, einzig durch ihr Handeln zu überzeugen.
Trotz der schwierigen Lage sind Gewaltanwendung, Resignation oder Auswandern für die Nassars keine Option. Sie wollen vor Ort bleiben, um ein Zeugnis zu sein. Sie haben eine Vision des Weges ohne Gewalt. Es ist ein langer Weg, von dem womöglich nie Früchte sichtbar sein werden. «Wir weigern uns, Opfer zu sein. So können wir weiterhin agieren, nicht nur reagieren. Und wir weigern uns, zu hassen. Niemand kann uns zu Hass zwingen.»

Daoud Nassar spricht an einer Veranstaltung in der Pfarrei St. Theresia in Zürich-Friesenberg: «Wir weigern uns, zu hassen. Niemand kann uns zu Hass zwingen.»
Marianne Bolt / zvg
Aus dieser Motivation heraus hatte die christliche Familie 2002 auf dem Grundstück das «Tent of Nations» gegründet. Es ist ein Friedens- und Begegnungsprojekt, um die Frustration positiv zu kanalisieren, wie er sagt. Das «Tent of Nations» bietet unter anderem Camps an, in denen mitgearbeitet werden kann, Sommerlager für Kinder aus palästinensischen Städten, um in ihnen die Verbundenheit mit dem Land wachzuhalten, wie auch Kurse für Frauen. Da sie keinen Zugang zur Strom- und Wasserversorgung erhalten, versuchen sie zugleich, durch Solarpanels und Zisternen ihre Infrastruktur zu verbessern.
Die lokale Unterstützung ist indes nicht gross. Die Stimme jüdischer Friedensblöcke sei zurzeit sehr schwach, da die Stimmung in Israel nach rechts kippe. Und bei vielen Palästinensern gelte die Gewaltlosigkeit als Schwäche. So versuchen die Nassars, einzig durch ihr Handeln zu überzeugen. Und sie hoffen weiterhin auf Frieden. Zugleich betont Daoud Nassar: «Bei uns kann Friede ohne Gerechtigkeit nicht kommen. Es gibt keine militärische Lösung, um Frieden zu schaffen. Und es ist schwierig, Frieden zu schaffen, wenn die Brücke der Verständigung nicht geschaffen wird.»
Informationen zum Friedensprojekt der Familie Nassar finden sich unter www.tentofnations.com wie auch beim Schweizer Freundeskreis www.zeltdervoelker.ch.