Unter den zehn beliebtesten Sehenswürdigkeiten Europas sind fünf Kirchen vertreten: Die Sagrada Família in Barcelona, der Petersdom in Rom, der Dom zu Mailand, Notre Dame in Paris und der Kölner Dom. In der Schweiz besuchten im vergangenen Jahr ca. rund 200 000 Personen den St. Galler Stiftsbezirk mit Kathedrale und Stiftsbibliothek, und ebenso viele das Kloster Einsiedeln. «Wer nach der Motivation der Kulturreisenden fragt, die Kirchen und Klöster besuchen, stösst auf den Megatrend Wissenskultur», sagt Christian Cebulj, der an der Theologischen Hochschule Chur zum Thema forscht. «Erholung und Bildung gehören für viele Menschen gerade in den Ferien zusammen.» In den vergangenen Jahren sei zudem in ganz Europa das Bewusstsein gewachsen, dass der Erhalt des (religiösen) Kulturerbes identitätsstiftende Wirkung und Bedeutung habe. Daher zähle der «heritage tourism», der diesem kulturellen Erbe nachgeht, zu den am schnellsten wachsenden Segmenten im Tourismus. Um dieses Erbe zu pflegen, gibt es seit 2009 das europäische Netzwerk «Future for Religious Heritage», das die Forschungstagung in der Paulus Akademie zusammen mit der Theologischen Hochschule Chur organisiert hat.
Dass Touristinnen und Touristen Kirchen besuchen, ist seit Jahren so. Neu ist das Phänomen «Overtourism», der nicht mehr nachhaltige Massentourismus. Immer mehr Menschen wollen daher – so Cebulj - nicht mehr nur Sehenswürdigkeiten abhaken, sondern die besondere Atmosphäre eines Ortes erfahren. Dazu gehört in Kirchenräumen auch das spirituelle Erleben. Diesem Berührungspunkt ging die Fachtagung in der Paulus-Akademie nach: entsteht dadurch eine Touristifizierung der Religion oder eine Spiritualisierung des Tourismus?

Christian Cebulj ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik und forscht zum Thema.
zvg
Die Antworten fallen je nach Ort, Erfahrungen und Forschungsschwerpunkten unterschiedlich aus. «Transformationsängste gibt es auf beiden Seiten», meint Harald Pechlaner, Professor für Tourismusforschung aus Eichstätt. «Solche Ängste gehen immer mit Paradigmenwechseln einher, wie wir es aktuell auf mehreren Ebenen erleben». Durch die Kirchen könne jedoch der Tourismus wieder an Tiefe gewinnen, hält Pechlaner fest: «Begegnungs- und Beziehungsqualität wären Ansatzpunkte für eine Spiritualisierung des Tourismus». Der Wunsch nach Tiefe und Reflexion sei gerade bei jungen Menschen vorhanden, wie eine Forschungs-Feldarbeit auf dem Jakobsweg ergeben habe.
Sakralräume können zum Kommunikationsraum über Religion werden.
Ähnliches erlebte auch Monika Grieder im Rahmen ihres Gemeindeprojektes während der Ausbildung zur reformierten Pfarrerin im Zürcher Grossmünster. Hierher komme täglich «eine Flut von Menschen, von denen viele von Religion keine Ahnung haben», erzählt sie in einem der Workshops der Tagung. Zuerst versuchte sie mit aufgelegten Flyern die Menschen anzusprechen, die nach Spiritualität suchen – jedoch ohne Erfolg. Dann sei sie während sechs Wochen täglich im Talar im Grossmünster gestanden und habe Gespräche angeboten – was fast immer zu bereichernden Begegnungen geführt habe. Aus diesen Gesprächen seien bewegende Texte entstanden, die sie in einer Broschüre und auf einer Website zusammen gefasst hat.
Das Potential von Sakralräumen für Interessierte – auch den Tourismus – zugänglich machen, das will Theologische Hochschule Chur zusammen mit dem Verein «Kirchen und Tourismus Schweiz». Dazu sei aktuell das Forschungsprojekt «Swiss Religious Heritage» eingereicht worden, sagt Cebulj. Dabei gehe es um die Entwicklung einer Online-Plattform, die analog zu den Webseiten ‚Schlösser Schweiz‘ und ‚Museen Schweiz‘ die ‚Sakrallandschaft Schweiz‘ sichtbar machen solle. Das Projekt MONA (Monastery Landscape Switzerland) ist bereits gestartet. Hier wird die Klosterlandschaft Schweiz kartografiert und digital sichtbar gemacht. „Daran werden sich Fragen der nachhaltigen Nutzung von Klostergebäuden anschliessen, die auch die Zusammenarbeit mit Tourismusorganisationen in den Blick nimmt“, so Cebulj.
Fazit der Tagung: Sakralräume können immer mehr zum Kommunikationsraum nicht nur über Architektur, Kunst und Geschichte, sondern auch über Religion werden. Wenn Kirchen wie Tourismusorganisationen die Herausforderung annehmen, öffnen sich für beide neue Wege.