Denise Wyss ist seit Anfang Februar Pfarrerin in der Christuskirche in Zürich-Oerlikon in der christkatholischen Kirchgemeinde Zürich. Wir treffen uns an einem ihrer Lieblingsorte: dem alten Friedhof in Zürich-Oerlikon. Eine Oase der Stille inmitten des Getriebes der Stadt, sagt sie. An diesem friedlichen Ort erzählt sie, dass sie jüngst Spuren ihrer familiären Vergangenheit in Oerlikon entdeckt hat: eine ihrer Grosstanten habe hier gelebt, jung gestorben sei sie auf diesem Friedhof bestattet worden. Ein Grab gibt es heute keines mehr.
Eine Momentaufnahme: Was beschäftigt Sie als Priesterin zurzeit?
Es sind die traurigen Fälle. Der Tod eines Jugendlichen in der Kirchgemeinde. Sterbenskranke Menschen, auch die Begleitung von Menschen in allen Lebenssituationen überhaupt. Das hat ja immer etwas mit mir zu tun.
Wie meinen Sie das?
Alt werden beschäftigt mich und das eigene alt werden. Ich bin in der Kirche tätig, seit ich 32 Jahre alt bin, ich habe als junge Frau begonnen und bin im Amt älter geworden. Da ändert sich etwas.
Was denn?
Das Bewusstsein für die eigene Vergänglichkeit wird immer grösser, auch im eigenen Kreis können mich Verluste treffen. Mich beschäftigt die Frage, wie ich Kraft bekommen kann in meiner eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit und wie ich für andere da sein kann in deren Verletzlichkeit und Vergänglichkeit.
Wie gehen Sie mit dieser Frage um?
Kraft kommt für mich nur aus dem Gebet. Sie kommt aus der Verbindung, und sie kommt aus dem Moment heraus. Meiner Erfahrung nach hat man nicht immer genug Kraft für alles, und doch kommt auch Kraft aus der Situation.
Darf ich fragen, was für Sie Gebet ist?
Dialog mit Gott, mit dem Göttlichen. Es ist ein ganz klarer Dialog, in den man sich einlässt und vertraut, dass etwas zurückkommt. Ich formuliere und bete frei, ich habe keine fixen Texte.
Gibt es so etwas wie priesterliche Qualitäten?
Ja. Nehmen wir als Beispiel die Person des verstorbenen Papstes: Er hat für mich diese Qualitäten verkörpert – bedingungslose Liebe, die er für mich ausgestrahlt hat. Güte, Barmherzigkeit, Bescheidenheit, Humor. Obwohl auch er wie alle menschliche Schwächen hatte. Es geht um eine seelsorgerliche Haltung, aus der heraus ich Menschen mit dem Göttlichen und mit Jesus in Verbindung bringen kann, meinen Glauben weitergebe. Wenn ich Eucharistie feiere und Gemeinschaft entsteht, die über familiäre Verbundenheit hinaus geht, kann das spürbar werden und bleibt nicht nur ein abstrakter Vollzug.
Können diese Qualitäten nicht alle Menschen ausstrahlen?
Natürlich. Und in meinem Auftrag als Priesterin verkörpere ich das bewusst, so gut ich kann.
Wofür braucht es das Priesteramt?
Für das, was ich eben beschrieben habe. Ein amtliches Gesetzespriestertum braucht es für mich nicht, auch Jesus kritisierte genau das ja an seiner eigenen Religion.
Welche Rolle spielt das Geschlecht für das Priesteramt?
Eigentlich ist für mich das Geschlecht auf der spirituellen Ebene völlig irrelevant. Geistlich betrachtet spielt es keine Rolle, ob eine Person Frau oder Mann oder anders ist. Auf einer anderen Ebene kann es wiederum relevant sein. Ich vermute schon, dass gewisse Menschen – gerade Frauen – anderen Frauen Dinge anvertrauen, die sie einem Mann vielleicht nicht anvertrauen würden. Umgekehrt ist das sicher auch so.
Sie sind von der römisch-katholischen zur christkatholischen Kirche konvertiert, während Ihres Studiums. Was war der Motor?
Ich wollte nicht in diesem «Krieg» leben, in diesem Spannungsfeld von Progressiven und Konservativen. Diese Sticheleien wirkten auf mich wie ein Dauerthema. Dabei haben mich Theologie und Philosophie sehr interessiert und ich sah auch beruflich eine Zukunft für mich in der Kirche. Als ich dann mit der christkatholischen Kirche in Kontakt kam und erfuhr, dass sie Diakoninnen weihen, studierte ich christkatholische Theologie in Bern mit dem Ziel, Diakonin zu werden. Priesterinnen gab es zu dieser Zeit noch nicht.
Sie sind also aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten, weil Sie nicht geweiht werden konnten?
Nein. In der römisch-katholischen Kirche hätte ich keine Diakonin werden wollen. Ich bin nicht der Typ, der ein Leben lang kämpfen oder sich rechtfertigen will.
Würden Sie die Entscheidung heute wieder treffen?
Ich würde es heute wieder machen. Ich weiss aber auch, dass es in einer kleineren sozialen Gruppe wie der christkatholischen Kirche mitunter leichter ist, weniger Differenzen zu haben. Ich glaube, der «Krieg» liegt auch an der Grösse des Systems römisch-katholische Kirche.
Sind Sie Feministin?
Auch da wiederum: Mit der feministischen Theologie zum Beispiel konnte ich mich nie so richtig anfreunden – wegen des kämpferischen, das auch darin steckt: Man muss um etwas kämpfen, man will sich einsetzen, weil man auch jemand ist. Für mich kam der Weg eher aus einem Selbstverständnis heraus: nicht kämpfen, sondern sein.
Im Jahr 2000 wurden Sie zur ersten christkatholischen Priesterin der Schweiz geweiht. Was bedeutet Ihnen die Weihe?
Meine Weihe ist der Auftrag meiner Kirche, für mich ist es eine Ordination zu einem ganz bestimmten Dienst. Die Berufung kommt von der Kirche, nicht von mir oder von Gott. Ich sehe das nicht verklärt.
Die Berufung kommt von der Kirche?
Ja, sie kam von der Kirchgemeinde in Baden, im Kanton Aargau, wo ich damals tätig war. Die Leute sagten, bitte sei Du Priesterin für uns. Ich wollte das erst gar nicht, dann war es aber etwas Natürliches für mich und ich dachte: Gut, ich mach’s, wenn die Unterstützung so gross ist. Meine Weihe hatte dann für viele Menschen eine grosse symbolische Kraft, für viele Frauen war es sehr wichtig, auch für viele Männer.
Ihre Weihe hat viel Aufmerksamkeit erregt.
Medial war das ein grosses Aufheben, aber das kam aus dem weiteren Umfeld. Unsere Kirche hat sich im Gegenteil sehr zurück gehalten. Unser damaliger Bischof Hans Gerny hatte länger gezögert, ob er dem Priesteramt von Frauen zustimmen soll: wegen der Beziehungen zur Orthodoxie. Auch innerhalb der Utrechter Union, in der verschiedene alt- und christkatholische Kirchen zusammengeschlossen sind, gab es Auseinandersetzungen. Die Polnische Nationale Katholische Kirche in den USA und Kanada, die von Auswanderern gegründet wurde, ist deswegen aus der Union ausgetreten.
Und die römisch-katholische Kirche?
Der Vatikan hat erst im Jahr 2023 durch Kardinal Gerhard Ludwig Müller einer Kirchengemeinschaft mit der altkatholischen Kirche – wie unsere Kirche in anderen Ländern heisst – eine Absage erteilt: das schwierigste Problem sei die sakramentale Weihe von Frauen. Dabei hatte man zuvor in vielen theologischen Fragen eine Annäherung erzielt.
Was sagen Sie dazu, dass die römisch-katholische Kirche keine Frauen weiht?
Ich finde es theologisch einen Fehler, aus traditioneller Sicht ist es nachvollziehbar.
Warum ist es theologisch ein Fehler?
Es ist theologisch falsch, die Männlichkeit von Christus zu betonen. Das Konzil von Chalcedon spricht von der Menschwerdung, und Menschen gibt es als Männer und Frauen und in Zwischenformen. Ausserdem haben die Ortskirchen keine Autonomie.
Was sind für Sie die zentralen theologischen Argumente für die Weihe von Frauen?
Das Priesteramt hat es bei Jesus und in der Urkirche nicht gegeben, es ist in patriarchale Strukturen hinein entstanden. Es ist eine amtliche Einrichtung in einer konkreten Gemeindesituation, es kann sich also wieder ändern. Zweitens, wie bereits gesagt: Christus ist Mensch geworden, es fehlt etwas, wenn andere Seiten des Menschlichen nicht repräsentiert sind. Die Möglichkeit der Weihe von Frauen wurde in unserer Kirche theologisch sehr sorgfältig abgeklärt.
Wo sehen Sie Ihre Kirche in fünf Jahren?
Ich sehe die Kirchgemeinde in Zürich etwa ähnlich wie heute: allgemein schrumpfen wir seit der Gründungszeit, aktuell wachsen wir aber eher in den Städten. Persönlich setze ich mich dafür ein, dass wir unser virtuelles Angebot ausbauen. Es sind so viele Menschen online auf der Suche mit ihren Fragen, und das Angebot von extremen kirchlichen Kreisen ist extrem gross, dem möchte ich etwas entgegen setzen.
Denise Wyss (*1965) empfing im Jahr 2000 als erste Frau in der christkatholischen Kirche die Priesterweihe. Sie ist die erste Priesterin der Schweiz. Zunächst studierte sie römisch-katholische Theologie in Luzern, ehe sie konvertierte und an die christkatholisch-theologische Fakultät in Bern wechselte. Seit Februar 2025 ist sie Pfarrerin in Zürich-Oerlikon.