Zwei Sekunden schwerelos

Einfach loslegen, kreischen, schweben. Jugendliche feiern sich und ihre Gemeinschaft – mit und ohne Achterbahn.

Eine Achterbahn mit einem Kirchturm im Europapark.

Eine Fahrt mit der Wildwasserbahn ist das Gefährlichste, was ich im Europapark je zustande gebracht habe. Nicht, dass ich regelmässig nach Rust gefahren wäre. Einmal war ich da als Primarschulkind und dann wieder mit meinen Söhnen 25 Jahre später. Ich fürchte mich viel zu sehr, als dass ich eine Achterbahn besteigen würde. Ich weiss nicht einmal genau, wovor ich Angst habe. Dafür hätte ich mal fahren müssen. Es ist die Angst vor der Angst, die mich davon abhält, das herauszufinden.

Dennoch war der Besuch des Europaparks für mich erlebnisreich. Während ich damals darauf wartete, dass meine Söhne die Bahn bestiegen, war ich so aufgeregt, als stünde ich selbst in der Reihe. Und wenn sie von der Fahrt zurückkamen, war ich glücklich, als hätte ich selbst den Höllenritt überstanden. Für mich gibt es also gar keinen Grund, mich selbst in die Tiefe fallen zu lassen oder in zweieinhalb Sekunden von null auf 100 Stundenkilometer  beschleunigt zu werden. Das tönt wie eine Ausrede und ist es auch. Denn als Zuschauerin ver­passe ich das Wichtigste: Gemeinsam etwas Aussergewöhnliches zu erleben. Das schweisst zusammen, verdoppelt das Glück und fühlt sich nach echtem Leben an.

«Wenn wir im Car nach Hause fahren, höre ich viele Mut-Geschichten», sagt Katharina Küng: Für viele Jugendlichen seien die Bahnen eine grössere Herausforderung, als sie es zugeben. Katharina Küng ist katholische Jugendseelsorgerin in Männedorf und Uetikon und organisiert heute zusammen mit ihrer reformierten Kollegin Damaris Burri den Ausflug in den Europapark. Ihnen ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen einen Tag ohne Erwachsene unter sich verbringen dürfen.

Mit der Kirche in den Europapark: Der gemeinsame Ausflug für die Jugendlichen der katholischen und reformierten Kirche Männedorf und Uetikon ist längst Tradition.

Luis und Iraia leiten eine der Gruppen. Denn erst die Acht- und Neuntklässler dürfen den Park allein erkunden. «Luis ist mein bester Freund», sagt Iraia mit ihrem FBI-Hoodie und der schwarzen Sonnenbrille und hängt sich bei ihm ein. Sie haben sich während der Firmvorbereitung vor einem Jahr kennen gelernt. Iraia steht kurz vor dem Lehrabschluss als Fachfrau Apotheke. Luis hat noch ein Jahr seiner Lehre als Hochbauzeichner vor sich.

Nico, Jan, Nunio, Léanne, Carla und Johanna sind den beiden besten Freunden anvertraut. Als erstes einigen sich die Jugendlichen auf die Voltron. Die Achterbahn ist fast eineinhalb Kilometer lang und hat den steilsten Start in ganz Europa, während zwei Sekunden werden sich die Jugendlichen schwerelos fühlen. «Ich liebe diesen Kick», sagt die 13-jährige Johanna nach der Fahrt. Sie habe keine Angst mehr vor den Bahnen, seit sie die richtige Atemtechnik kenne. «Wenn es runter geht, musst du ausatmen, wenn es hoch geht, ein.» Johanna ist zum dritten Mal auf dem Ausflug dabei, weil ihre Familie keine Lust auf Freizeitpark hat.

Iraia muss nach der Fahrt ihren Dutt nochmals neu machen und lässt sich dabei von Luis helfen. Sie trägt eine schwarze Umhängetasche. Da hat es Traubenzucker für die Kinder drin. «Die Gesundheit der Menschen steht für mich an erster Stelle» sagt sie und erzählt, dass sie nach der Lehre die Rekrutenschule besuchen will, um sich im Gesundheitsbereich weiterzubilden. Der Militärdienst ist ihr Kindheitstraum. Mit der Hilfe ihres Bruders, der bereits Militärdienst leistet, will sich Iraia auf die Aushebung vorbereiten und Sanitätssoldatin werden. Noch etwas ist für sie wichtig: ihr Glaube. Seit sie mit 16 Jahren eine Krise während der Lehre hatte, ist dieser für sie noch wichtiger geworden. Das war während des Firmwegs. «Ich war erschöpft und hatte keine Energie mehr, nach dem Gebet fühlte ich mich jeweils wieder leicht», sagt Iraia. Dieses Erlebnis ist es, das sie motiviert, sich in der Kirche zu engagieren.

Der Europapark bietet nicht nur Spass – gemeinsam etwas Aussergewöhnliches zu erleben schweisst zusammen.

Als nächstes einigen sich die Jugendlichen dann auf Fjord-Rafting. In überdimensionalen Reifen mit Sitzen wollen sie durch Kanäle fahren, die gesäumt sind von Wasserfällen und gespickt mit Stromschnellen. Wer nicht schon bei der Fahrt nass geworden ist, hat noch die Chance von einer Wasserspritze getroffen zu werden, die von schadenfreudigen Zuschauerinnen bedient wird.

Während wir uns durch das Wartelabyrinth schlängeln, versuche ich möglichst nicht an die anstehende Fahrt zu denken. Ab und zu halte ich Ausschau nach Kindern. Als ich welche im Kindergartenalter sehe, werde ich ruhiger: Wenn Fünfjährige mitfahren, schaffe ich das auch! Luis hilft mir, mich abzulenken und erzählt, dass er den Firmunterricht auch seiner Mutter zuliebe gemacht habe. Er finde Kirche dann okay, wenn sie nicht streng mit den Menschen sei. Sein kirchliches Engagement hängt er nicht an die grosse Glocke.

Von einer grossen hölzernen Drehscheibe aus besteigen wir die Bahn. Die sechs Jugendlichen sind nicht zum ersten Mal hier, sie ziehen ihren Regenschutz über und schnappen sich zusammen ein Floss. Iraia, Luis, unsere Fotografin und ich müssen auf das nächste Floss warten.

Kaum sitze ich, bekomme ich einen Schwall Wasser zwischen die Beine. Darüber, wonach der Wasserfleck aussieht, mache ich mir jetzt keine Gedanken. Ich schaue Iraia an und versuche auszublenden, was da auf uns zukommt. Meine Hände halten das Geländer in der Mitte des Flosses krampfhaft fest. Das Floss dreht sich und schaukelt, Wasser spritzt von allen Seiten und wir ducken uns von den Wasserfällen weg. Stress, Adrenalin, Erleichterung. Wir sind am Ziel, die Fahrt ist überstanden. Und: Das Glücksgefühl ist überwältigend!

Luis und Iraia begleiten Nico, Léanne, Johanna, Carla, Nunio und Jan durch den Tag. Für den Notfall hat Iraia Traubenzucker und Luis bleibt gelassen.

Die einen haben jetzt Hunger. Johanna und Carla wollen unbedingt Bubble-Waffeln essen. Nico will gar nichts essen. Léanne hat was dabei und die anderen wollen sich im skandinavischen Teil des Parkes etwas zu Essen holen. Nach einer halben Stunde treffen sich alle wieder an Tischen unter Schirmen, denn an der Sonne ist es nun heiss.

Johanna stochert in der Bubble-Waffel mit Schokoladensauce und Schlagrahm. Die Dreizehnjährige besucht den Religionsunterricht und bereitet sich auf ihre Konfirmation vor. Dafür braucht sie 48 Punkte, die sie mit der Teilnahme an Kursen, Vorträgen und Gottesdiensten sammelt. Heute kriegt sie keine Punkte. Mit dem Sammeln ist Johanna sowieso im Rückstand. Viele Kurse finde sie nicht so spannend, aber darauf komme es ihr nicht an: «Mir ist wichtig, dass ich mit meinen Freunden zusammen bin.» Mit ihnen am Tisch sitzen Nunio, Jan und Nico. Ihre Blicke sind auf die Handys gerichtet, auf denen sie gemeinsam ein Fussballspiel spielen. Vom Gespräch entgeht ihnen dennoch nichts, was ihre eingeworfenen Kommentare zu den Konfirmationskursen beweisen.

Die Gruppe macht sich auf den Weg zur Blue Fire. Mit der Bubble-Waffel im Bauch stellt sich Carla in die Schlange: Diese Bahn ist sie noch nie gefahren. Johanna ermutigt sie. Sie passieren mit den anderen das Drehkreuz und lassen Léanne und mich zurück. Léanne setzt sich auf einen grossen Stein mit Sicht auf die Bahn und lässt sich nicht in ein Gespräch verwickeln. Sie beobachtet die Wagen-Kombinationen, kneift ein Auge zu und zeichnet ihre Spur
in die Luft – zuerst mit dem Finger, dann mit der Handy­kamera. Ob Léanne es auch im Magen spürt, wenn sie die Schreie der Menschen hört, die ihre Arme in die Luft strecken, als sie zu Beginn der Fahrt in die Höhe katapultiert werden, um dann in mehreren Loopings und Schrauben über die Bahn zu rasen?

Das Warten für unsere Gruppe dauert. Technische Probleme verzögern die Fahrt. Iraia nützt die Zeit, um mit den Jugendlichen zu plaudern. Sie geniesse es, wenn die Jüngeren auf sie hörten und auf sie zählten. Es freue sie, wenn auch die scheuen Jungs sich plötzlich an den Gesprächen beteiligten, sagt sie später. Beim Anstehen hätten sie über die Schule und den Fussball gesprochen und wer auf wen einen Crush habe. Iraia hütet sich, Details zu den Schwärmereien auszuplaudern. Endlich kommen die Blue-Fire-Kosmonauten zurück. Carla hat es geschafft, sie ist erleichtert und der Stolz steht ihr ins Gesicht geschrieben. Nico erzählt aufgeregt, dass sie vor dem Start nochmals aussteigen mussten und die Wagenkombination leer über die Schienen geschickt wurde. Ein bisschen verunsichert habe ihn das schon. «Während der Fahrt war ich gleichzeitig aufgeregt und total entspannt. Dieses Gefühl liebe ich», sagt der Sechstklässler.

Die Zeit ist fortgeschritten, für eine weitere Bahn reicht es nicht mehr. Luis und Iraia treiben die Jugendlichen vorbei an Candyshops und Jahrmarktbuden, um rechtzeitig zum Gruppenfoto zu kommen. Die Busfahrt nach Hause ist quirliger als die Hinfahrt. Die Handy-Akkus sind leer. Jetzt kommt die Stunde der Mut-Geschichten.