Der Solitär

Mit dem Prix Meret Oppenheim erhält der Zürcher Architekt Miroslav Šik den bedeutendsten Kunstpreis der Schweiz. In seinem Œuvre steht sozialer Wohnungsbau neben der Neugestaltung von Kirchenräumen.

Porträt des Zürcher Architekts Miroslav Šik

Es ist ein freundlicher Frühlingsnachmittag am Zürichsee und wohin man blickt im Pfarreizentrum St. Josef in Horgen, herrscht gelassene Betriebsamkeit. Im Saal lachen Senioren, in der Kirche üben Erstkommunion-Kinder, in den Blumenbeeten wird gegraben, und über die Kirchenstufen brummt der Kärcher. Alles gute Gründe, den Architekten Miroslav Šik nicht in seinem Zürcher Büro zu treffen, sondern genau hier: Vor einigen Jahren hat er die Kirche neu gestaltet. Aber imposante Pläne sind das eine, Architektur im Alltagsbetrieb noch einmal etwas anderes. Lebt sie? Belebt sie? Šik kommt zu Fuss von der S-Bahn, nimmt die Treppe, drückt einen Anruf weg. Es zieht ihn hinein in die Kirche. Ganz hinten in der letzten Bank nehmen wir Platz. Das Gespräch beginnt mit einem Schweigen, so stark wirkt der helle Raum: «Meine wichtigste Aufgabe in Horgen bestand darin, das Licht einzufangen. Denn morgens und am späten Nachmittag beginnt es hier an schönen Tagen zu leuchten: Das Sonnenlicht fällt farbig auf Glasflächen, auf den Boden und die bewusst grau gehaltenen Sitzbänke. Manchmal hilft es, nur schon den Boden zu säubern und das Licht ist zurück.»

Die Kirche scheint tatsächlich auf eigentümliche Weise aus sich selbst heraus zu strahlen. Im Chorraum ist seit dem Umbau Text als Sgraffito in den Putz geritzt, die Buchstaben sind gerade so gross, dass man sie aus der Distanz lesen kann. Und doch entsteht die Anmutung ausgetrockneter, aufgerissener Erde: eine Sehnsucht nach Wasser und Leben. Zwei monumentale Heiligenfiguren stehen Wacht und flankieren den Chor. Šik hatte Maria und Josef auf dem Estrich entdeckt und ihnen neues Leben geschenkt. «Dass wir Architekten etwas wieder vom Estrich zurückholen wollten, war absolut unerhört. Es muss doch einen Grund geben, warum das Zeug dort liegt! Andererseits haben die Menschen sehr stark gespürt, dass die nackten Wände auch keine Lösung sein konnten. Also haben wir die Figuren gewaschen und unsere Auftraggeber auf den Dachboden geführt. Das war ein eindrücklicher Moment: Die Figuren lagen da wie zwei schlafende Pharaonen.»

Miroslav Šik, 1953 in Prag geboren, kam als Jugendlicher in die Schweiz. Unter dem Begriff «Analoge Architektur» prägte er in den 1980er-Jahren eine folgenreiche architektonische Be­wegung. In bewusster Abkehr von der klassischen Moderne verarbeitete sie Einflüsse der unmittelbaren Umgebung, lokaler Stimmungen und Bautraditionen. 

Das klingt wie eine Expedition und Wiederentdeckung.

Oft reicht die Vorstellungskraft einfach nicht. Da muss ich konkret zeigen, was ich vorhabe. Ich muss es Menschen doch leicht machen, mutige Entscheidungen zu treffen.

Eine schöne Vorstellung: der Architekt als Mutmacher! Gerade im kirchlichen Umfeld hat der Mut ja nicht immer Heimspiel.

Menschen brauchen ein Gefühl dafür, was entstehen soll. Sie wollen es riechen und schmecken. Das gibt Sicherheit. Vielleicht ist es von Vorteil, dass ich schon etwas älter bin: Ab und zu glaubt man mir mittlerweile sogar auf Anhieb.

Und wenn nicht?

Als Architekt ist man immer ein Geschichtenerzähler. Unser Problem ist: Wenn ich allein mit Sprache beschreibe, sind die Missverständnisse vorprogrammiert. Wir werden in unserer Kommunikation viel mehr von Annahmen bestimmt, als den meisten bewusst ist. Daran hängen unausgesprochene Bedenken, Ängste, Befürchtungen.
Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Dabei ist es zentral, Menschen für die zugrundeliegende Idee zu begeistern. Wenn ich vorschlage, dass sich beim Altar der Stein verjüngt, dann geschieht ein wunderbarer Effekt: Die liturgischen Requisiten wachsen gleichsam aus dem Boden. Diese Vorstellung ist nicht mehr abstrakt, sondern für viele Menschen ein nachvollziehbares und schönes Bild. Und das möchte ich erzählen.

Jetzt drängt Šik doch nach vorne, aus der Totale in die Nahaufnahme der Steinlandschaft, die er aus dem Boden wachsen hat lassen, zu den zwölf Aposteln, zu Tabernakel, Taufstein und Totenbuch. Die Annäherung verschiebt tatsächlich Perspektiven, die grosse Geste des Raumes verschwindet zugunsten kleiner Geschichten im Detail. Die Ecken der Messingbeschläge zum Beispiel: aufgewellt und aufgebogen, als hätten schon viele Menschen darin geblättert. Es ist die bewusste Inszenierung von Gebrauchsspuren über viele Generationen hinweg. «Ein paar Effekte sind zufällig entstanden, ein paar haben wir während des Baus entdeckt. Und zugegeben: Einige Tricks hatten wir schon am Schreibtisch geplant.»

Zaubern solche spielerischen Elemente nicht automatisch ein Lächeln ins Gesicht?

Ich empfinde es als zunehmend schwierig, einen Konsens zu finden. Es ist erstaunlich, wie sich erwachsene Menschen über Kunst in die Haare kriegen können. Nicht nur die Schweizer!

Beobachten Sie denn helvetische Besonderheiten?

In meinen Bauprojekten habe ich etwa zweieinhalb Jahre Zeit, einen Draht zur Gemeinde zu finden. Da reicht es nicht aus, nur den Pfarrer zu überreden. Dank der direkten Demokratie muss ich die gesamte Gemeinde überzeugen. Jeder weiss: In der Schweiz kann das dauern. Nur wenn man etwas putzen möchte, sind alle immer sofort einverstanden.

Immerhin!

Aber schon beim Weisston beginnt ein Prozess der Meinungsbildung. Ursprünglich war hier so ein Autobahnweiss gewünscht. Aber unser Granit stammt nun mal vom Gotthard. Da finden wir nie zweimal denselben Farbton. Das ist ein absolut gebrochenes Weiss, manchmal dreht es sogar ins Grünliche.

Damit rücken Sie ästhetische Überlegungen ins Bewusstsein, mit denen sich die wenigsten Menschen vorher beschäftigt haben. Bereitet Ihnen diese Form der Vermittlung Freude?

Man braucht Geduld. Für vielleicht 60 Sitzungen. Auch wenn das Honorar längst aufgebraucht ist, gehe ich selbstverständlich immer hin, schliesslich möchte ich mein Projekt vollenden. Es ist wichtig, immer und immer wieder die gleichen Dinge zu erklären. Menschen brauchen das!

Von André Heller stammt der Seufzer «Wenn die Idee zur Tat schrumpft».

Es geht vor allem darum, die Alltagstauglichkeit jeder Idee zu beweisen. Vieles in meiner Arbeit ist eine ganz praktische Herausforderung. Für die Platzaufteilung muss ich wissen, wie weit die liturgischen Gewänder geschnitten sind, damit man gut um den Altar herumgehen kann. Stufen sind als Stolperfallen immer ein Riesenthema.

Barrierefreiheit ist gleichzeitig ein berechtigtes Anliegen.

Was ich damit sagen will: Eine gelungene Raum-Komposition ist kein Geniestreich, sondern entwickelt sich in einem Prozess.

Dabei steckt der Teufel bekanntlich im Detail.

«Wie kann man diesen Stein putzen?» Auch solche Fragen muss ich beantworten können, denn die kommen garantiert. Gute Architektur hat immer viel mit Vernunft zu tun.

In meinem Metier ist man gut beraten,
sich nicht als der grosse Künstler zu inszenieren.

Und was zeichnet einen guten Architekten aus? Vernunft alleine wird nicht reichen.

Der Beruf muss einem vor allem Spass machen. Sie sind Künstler, aber auch Ingenieur, sind Unternehmer und als Designer verantwortlich für das Nutzererlebnis. Erst wenn diese Bereiche ineinander spielen, kann es funktionieren. In mir persönlich steckt auch ein kleiner Bürokrat. Ich rechne gerne und habe ein Faible für technische Dinge.

Die öffentliche Wahrnehmung eines Star-Architekten ist etwas glamouröser.

In meinem Metier ist man gut beraten, sich nicht als der grosse Künstler zu inszenieren. Da reagieren Schweizer schnell allergisch.

Sie kamen als Teenager von Prag in die Schweiz. Seit 1985 sind Sie Zürcher Bürger. Verfügen Sie über ein besonderes Sensorium für solche Empfindlichkeiten?

Zumindest ist es ein Grund für meinen persönlichen Weg. Ich habe in der Schweiz keine Wurzeln, kein soziales Netz, keine weit verzweigte Familie. Deshalb habe ich mich auf öffentliche Ausschreibungen von Kirchenumbauten und sozialem Wohnungsbau konzentriert. Eine interessante Kombination, finden Sie nicht auch?

In Miroslav Šiks Kosmos treffen komplexe, aber hoch standardisierte Projekte auf künstlerisch individuelle, handwerklich geprägte Gestaltungslösungen. Um die Anforderungen im sozialen Wohnungsbau überhaupt bewältigen zu können, hat er sich ehemalige Studenten als Partner ins Boot geholt. «Es ist schon ein wenig ungewöhnlich: Wir siezen uns noch immer», sagt Šik mit einem feinen Lächeln, als könne er das selbst kaum glauben: «Aber es funktioniert gut.» Er macht es eben auf seine Art. Manche Menschen bleiben auch in einem grossen Team ein Solitär. «Ich habe mich nun mal zu einem Wettbewerbs-Tier entwickelt. Ich will gewinnen! Und ich bin enttäuscht, wenn ich verliere. Dafür muss ich nicht in einen Club und auf keine Partys.»

Sind Sie ein religiöser Mensch?

Ich stamme aus einer konfessionslosen Familie. Mit allem Kirchlichen, worum es hier ja geht, hatte ich biografisch keinerlei Berührungspunkte. Alles, was ich von daheim kannte, waren die Vorurteile meiner Mutter gegenüber allen Glaubensdingen. Mein Vater war Kommunist und Teil des Regierungsapparates.

Das klingt nach besten Voraussetzungen für einen ungewöhnlichen Blickwinkel.

Beim ersten Architektur-Wettbewerb deckte ich mich zunächst einmal in einer katholischen Buchhandlung mit Literatur ein. Ausserdem ging ich vier Wochenenden lang in die Kirche. Sehen, wie das läuft. Dass mir heute die Um­gestaltung von Kirchen anvertraut wird, finde ich trotzdem erstaunlich. Vielleicht zeigt es auch die Schweizer Toleranz.

Gibt es etwas, wofür Sie in der Schweiz kein Verständnis erwarten können?

Bei meinem allerersten Kirchenbau habe ich einen Kardinalfehler begangen: Ich habe mich verkalkuliert. Als Architekt muss ich jederzeit wissen, was meine Ideen kosten. Dieser Anspruch ist übrigens völlig legitim. Schliesslich ist unmittelbar das Portemonnaie unserer Auftraggeber betroffen.

Was bedeutet Ihnen eine Ehrung wie der Prix Meret Oppenheim?

Das anerkennende Schulterklopfen kommt selten. In unserem Business braucht man eine dicke Haut, um zu überleben. Manchmal muss man einfach lange durchhalten. Mein Umbau der Kirche St. Antonius in Egg hat sich über 14 Jahre erstreckt und drei Pfarrer überdauert. Und sobald ein Projekt abgeschlossen ist, meldet sich nur noch jemand, wenn etwas nicht funktioniert. Da hilft eine gewisse Genügsamkeit.

Sind Sie ein genügsamer Mensch?

Ich brauche die Bestätigung von aussen genauso wie jeder andere Mensch auch! Diese Preise, die man erst in einem vorgerückten Alter für ein Gesamtwerk verliehen bekommt, tun gut – und sie sind für das ganze Team wichtig. Es ist nicht zuletzt eine Auszeichnung dafür, dass man durchgehalten hat.

Prix Meret Oppenheim 

Mit dem Prix Meret Oppenheim werden seit 2001 herausragende Schweizer Kulturschaffende ausgezeichnet. Auf Empfehlung der Eidgenössischen Kunstkommission vergibt das Bundesamt für Kultur jährlich ein oder mehrere Preisgelder von jeweils 40 000 Franken. Damit sollen die Ausführung eines Kunstwerks erleichtert und die theoretische Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen, aktueller Kunst oder Architektur gewürdigt werden. Die Verleihung findet jeweils im Juni an der Art Basel statt. Namens­geberin ist die Surrealismus-Künstlerin Meret Oppenheim (1913–1985).