Wenn sich das Leben anders anfühlt

Für Jüdinnen und Juden fühlt sich das Leben oft etwas anders an als für die anderen. Was das mit Antisemitismus und mit den Privilegien der Mehrheitsgesellschaft zu tun hat, haben Judith Coffey und Vivien Laumann in ihrem Buch «Gojnormativität» beschrieben. Anfang Mai wurde das Buch in Anwesenheit der Autorinnen im Zollhaus Zürich vorgestellt.

Ein Kopf mit Kippa, von hinten fotografiert in einem Bus.

Eine Schulklasse fährt im Rahmen des Geschichtsunterrichts zu einer KZ-Gedenkstätte. Unter den Jugendlichen hat es eine junge Frau mit jüdischen Bezügen. Für sie fühlt sich dieser Besuch anders an als für den Rest der Klasse. Sie versteht nicht recht warum und fühlt sich ausgeschlossen. Die junge Frau hätte Unterstützung gebraucht, um zu verstehen, warum sich der Ausflug für sie anders anfühlt und dass ihre Empfindung berechtigt ist.

Das Beispiel stammt aus dem Buch «Gojnormativität» von Judith Coffey und Vivien Laumann. Darin erklären die Autorinnen auch anhand von Beispielen wie jenem der Schulklasse, dass sich das Leben für Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft vielfach anders anfühlt als für die «Goj», wie Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft von Jüdinnen und Juden oft genannt werden.

Diese «sich anders fühlen» nehmen viele Jüdinnen und Juden seit der Terrorattacke der Hamas im Oktober 2023 stärker war als zuvor. Vor diesem Hintergrund ist das Kollektiv «Feministisch*Komplex» entstanden, das sich als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus und dem Mangel an Solidarität in vielen linken, feministischen und queeren Räumen in der Schweiz gegründet hat.

Gemeinsam mit dem Zürcher Institut für interreligiösen Dialog und der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus hat das Kollektiv Anfang Mai eine Lesung mit den Autorinnen von «Gojnormativität» organisiert.

Darin fordern Judith Coffey und Vivien Laumann ein anderes Sprechen über Antisemitismus, indem sie die spezifischen Diskriminierungserfahrungen von Jüdinnen und Juden in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft und in Abgrenzung zu anderen Minderheiten benennen. Der Begriff «Gojnormativität beschreibt, dass die allgemeingeltenden Normen der Gesellschaft vielfach nicht für jüdische Menschen gelten. Dass die Norm sogar antisemitische Strukturen in sich trägt und weitergibt. Ein Beispiel dafür sind die Verschwörungstheorien zur Entstehung und Weiterverbreitung des Corona-Virus während der Pandemie, die weltweit in den sozialen Medien kursierten und die an alte Stereotype der Juden als Brunnenvergifter anlehnen.

Die Wahrnehmung von jüdischen Menschen sei durch ein «mediales Dreieck» vorstrukturiert, das sich zwischen Antisemitismus, Schoa und Israel aufspanne.

Über Jüdinnen und Juden werde gesprochen, nicht aber mit ihnen. Ihre Perspektive fliesse nicht in den öffentlichen Diskurs ein und wenn, dann nur in bestimmter Weise. Denn die Wahrnehmungen von jüdischen Menschen sei durch ein «mediales Dreieck» vorstrukturiert, das sich zwischen den Themen Antisemitismus, Schoa und Israel aufspanne. Im Zusammenhang mit den Erzählungen über den Holocaust seien Jüdinnen und Juden entweder tot oder ihnen werde die Rolle des Opfers zugeschrieben. Im gegenwärtigen Sprechen über Israel hingegen würden sie als Täterinnen oder Täter wahrgenommen, was im ersten Fall paternalistische, im zweiten Fall negative Gefühle bei der Mehrheitsgesellschaft auslöse.

Judith Coffey (links) und Vivien Laumann, Autorinnen des Buches «Gojnormativität».

Mit dem Begriff «Gojnormativität» versuchen die Autorinnen die nicht-jüdische Norm sichtbar zu machen und mit ihr die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft, sowie die damit einhergehenden Herrschaftsverhältnisse und Diskriminierungserfahrungen für Jüdinnen und Juden, die äusserlich oft als weiss und damit als privilegiert gelesen werden. Im Unterschied etwa zu People of Color, migrantischen Frauen oder, Rom_nja oder Sinti_zze.

Weisse Menschen der Mehrheitsgesellschaft besässen das Privileg «einfach nur Mensch» sein zu können, sagen die Autorinnen, da es keine Markierungen gebe, auf Grund derer sie einer Kategorie zugeordnet werden könnten. Als weiss wahrgenommene Jüdinnen verfügten demnach ebenfalls über dieses Privileg. Aber im Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft sei diese Unsichtbarkeit keine freiwillige, sondern in vielen Fällen ein aktives Vermeiden von Sichtbarkeit. So verzichteten heute viele Jüdinnen und Juden auf das Tragen einer Kippa oder eines Davidsterns angesichts des stets latenten und seit Oktober 2023 wieder virulenten Antisemitismus.

Judith Coffey und Vivien Laumann bieten in ihrem Buch einen Ansatz das Thema Antisemitismus als strukturelles Problem in unserer Gesellschaft zu erkennen. Mit ihrem Buch wollen sie aber auch Jüdinnen und Juden ermächtigen, sich politisch besser zu positionieren und die Entsolidarisierung mit jüdischen Menschen – besonders auch in linken, queer-feministischen Kreisen –verstehen und kritisieren zu können. Allerdings haben sich viele unserer jüdischen Mitmenschen seit Oktober 2023 entschieden, ihre in der Mehrheitsgesellschaft vielleicht kontroversen Positionen nicht mehr aktiv und öffentlich zu vertreten. Die Goinormativität wirkt.

Buchcover «Gojnormativität»

erschienen 2021
im Verbrecher Verlag
ISBN 978-3-95732-500-6

aus der Buchbeschreibung:
«Antisemitismus und jüdische Perspektiven stellen häufig eine Leerstelle in intersektionalen Debatten und Debatten über Intersektionalität dar. Das vorliegende Buch macht jüdische Positionen und Erfahrungen mit dem Konzept der Gojnormativität artikulier- und sichtbar.»