Spielerisch ein Bewusstsein für Übergriffe schaffen

Wie viel Nähe ist zu viel? Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, steht oft vor schwierigen Fragen. Eine neue digitale Plattform liefert Werkzeuge und Wissen für verantwortungsvolles Handeln.

Brettspiel und Spielkarte mit einer Frage, die für Übergriffe sensibilisiert.
«Ich sehe was, was du nicht siehst» - Ein Spiel lädt zum Reflektieren über Grenzverletzungen ein.

Darf eine Leiterin in einem Jugendlager ein Kind in den Arm nehmen, um es zu trösten? Dürfen Leiterinnen und Leiter im gleichen Zimmer schlafen wie die Kinder und Jugendlichen? Darf ein Leiter ein Kind auf seinem Schoss sitzen lassen? - Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, kommt unweigerlich in Situationen, die anfällig sind für Grenzverletzungen. Seit sexueller Missbrauch in Kirche und Gesellschaft zum Thema geworden sind, ist auch die Sensibilität für solche Situationen gestiegen. Nicht nur Bischöfe und kirchliche Leitungspersonen sind verpflichtet, ihre Machtposition zu reflektieren und sich mit Fragen zu Nähe und Distanz zu befassen. Auch Jugendarbeitende sind gefordert, Präventionsarbeit zu leisten, damit Kinder und Jugendliche sich auf der Minireise, im Jublalager oder auf dem Segelturn sicher fühlen können.  

Hierfür hat eine Projektgruppe (siehe Kasten unten) neu eine digitale Plattform erstellt. Hier finden sich Theorien, Spiele, Übungen, Bilder und Reflexionsanregungen, die es ermöglichen, «ein massgeschneidertes Programm für einen Fortbildungstag» zusammenzustellen oder gezielt einzelne Themen aufzugreifen. Die Plattform richtet sich primär am Jugendarbeitende, aber auch an weitere kirchliche Angestellte und Interessierte. «Dass ihr hier seid und die Inhalte in Eure Gruppen tragt, hilft allen, Sicherheit zu gewinnen, um nicht ungewollt zum Täter oder zur Täterin zu werden», heisst es in der Begrüssungskachel auf der Plattform.

Kirchliche Jugendarbeitende wiederum sind Ansprechpersonen für ehrenamtliche Leitende. Auch diese Gruppe soll für Missbrauchsprävention sensibilisiert werden. Denn zwar sieht das Schutzkonzept etwa des Bistums Basel vor,  dass bei Ehrenamtlichen «ein korrektes Verhalten im Bereich von Nähe und Distanz sicherzustellen», sei. Doch an der Präsentation der Plattform wurde deutlich, dass dies nicht überall tatsächlich geschieht. Denn bei Freiwilligen handelt es sich nicht um ein arbeitsrechtliches Verhältnis mit Weisungsbefugnis. Genau hier setze die Plattform an, sagte Marcella Criscione von Fachstelle Jugend und junge Erwachsene Aargau, «dass wir von unten her sensibilisieren». 

Die Plattform ist eine eindrückliche Materialsammlung an Wissen und Methoden zur Prävention von sexuellem Missbrauch. Hier finden sich Begriffsdefinitionen zu «Übergriffiges Verhalten» oder «Sexuelle Ausbeutung im Machgefälle», kombiniert mit einem «Ampelspiel», bei dem konkrete Situationen wie die eingangs erwähnten in einer Gruppe diskutiert werden können. «Wie reagieren?» heisst es auf einem Blatt mit konkreten Hinweisen. Diese wiederum können mit dem Spiel «Ich sehe was, was du nicht siehst» geübt werden. 

Wimmelbilder zeigen typische Situationen, die in Lagern oder im Pfarreialltag auftreten können. Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Gruppe können darauf Situationen einkreisen, «bei denen sie denken, dass sie nicht in Ordnung sind, beziehungsweise Grenzen verletzt werden oder werden könnten», heisst es in der Anleitung dazu. 

Wimmelbild

Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Gruppe können auf dem Wimmelbild Situationen einkreisen, «bei denen sie denken, dass sie nicht in Ordnung sind, beziehungsweise Grenzen verletzt werden oder werden könnten».

Darüber hinaus finden sich Theorie und Anregungen zu Risiko- , Krisen- oder Beschwerdenmanagement; Schutzkonzepte und Regelblätter aus Bistümern und Jugendverbänden wie Jubla, Minis oder Pfadi sind ebenso zusammengetragen wie die Pilotstudie zu Missbrauch von 2023, Weiterbildungs- und Literaturempfehlungen. Geordnet wurde das Material nach den Standards von Limita, der Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung. «Die Plattform ist ein wertvolles Hilfsmittel für Jugendliche, Kirchenverbandsräte, Firmbegleiterinnen und Firmbegleiter», sagte Mirco Meier, Jugendarbeiter in der Seelsorgeeinheit Gaster (SG), der das Material vor der Präsentation getestet hat. Er finde hier Vorlagen, Spiele, Übungen und Informationen gebündelt, für die er sich sonst an sieben verschiedene Stellen wenden müsste. 

Michaela Berger, Generalsekretärin der Landeskirche Thurgau, erinnert an der Präsentation daran, unbedingt auch Kirchgemeinden über diese Plattform zu informieren. Die staatskirchenrechtliche Seite hinke beim Thema Prävention noch etwas hintendrein. «Grossartig», findet Stefan Loppacher, Leiter der Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext, die Plattform, «so macht man Prävention», sagte er an der Online-Präsentation vom 21. Mai. 

Entstanden ist die Plattform aus einem Auftrag der Landeskirche Aargau, einen Weiterbildungskurs für Prävention in der Jugendarbeit zu planen. Das dabei zusammengetragene Material wurde nun ergänzt und steht allen, die den Link haben, zur Verfügung. Die Landeskirchen Aargau und Thurgau haben das Projekt finanziell unterstützt. 

Anregungen, weiteres Material oder Korrekturen können gesendet werden an: jugend@kathaargau.ch oder jugend@kath-tg.ch.

Die «Präventionsplattform – Wissen und Methoden gegen sexuellen Missbrauch» wurde während einem Jahr von einer Projektgruppe erstellt und am 21. Mai online präsentiert. Zur  Projektgruppe gehören Marcella Criscione, Fachstelle Jugend und junge Erwachsene Aargau, Sarina Geyer, Fachstelle Jugend TG und Jubla TG, Murielle Egloff, Fachstelle Jugend TG und Ministran:innenpastoral «damp» sowie Thomas Boutellier, Pfadibewegung Schweiz. Die Projektgruppe steht auch für Einführungen in die Plattform zur Verfügung.