Der Siegeszug des Computers war immer begleitet von Visionen, welche die Vermenschlichung der Maschine erhofften oder befürchteten. Eingetreten ist allerdings genau das Gegenteil: Nicht die Maschine hat sich dem Menschen angeglichen, sondern der Mensch versucht zur Maschine zu mutieren. Wir betreiben Multitasking – versuchen also verschiedene Prozesse gleichzeitig ablaufen zu lassen. Wir lehnen uns gegen neurologische Barrieren auf – und versuchen unsere Hirnprozessoren zu tunen. Wir trachten danach, Raum und Zeit auszuschalten – indem wir immer mehr Lebenserfahrungen in die scheinbar grenzenlose Virtualität auslagern. Wir ordnen uns den Gesetzen des Computers unter – Schnelligkeit und Masse.
«Schneller, weiter, höher» bestimmt inzwischen den gewöhnlichsten Alltag. Nicht nur die Arbeitswelt, auch die Freizeit ist dauernd dem Druck von Wettbewerb und Produktivität ausgesetzt. Ferien müssen aktiv gestaltet und sinnvoll genutzt werden. Kurze Pausen werden investiert, um soziale Profile upzudaten. Und Wartezeiten überbrücken wir mit dem Smartphone. Der Leistungsdruck lässt in der Freizeit nicht nach, sondern wird noch grösser, weil wir nun nicht bloss liefern, sondern auch noch geniessen müssen. Das gigantische Angebot von Möglichkeiten führt zum Druck und schliesslich zur Gier, möglichst viele dieser Optionen auch wahrzunehmen. Je grösser das Angebot, desto mehr tolle Möglichkeiten werden wir aber zwangsläufig ausschlagen müssen – und so steigt das Frustpotential mit dem Angebot. Das zeigt sich exemplarisch am Fernsehprogramm. Wer dieses gezielt nach lohnenswerten Inhalten durchforsten will, benötigt dafür wöchentlich mehrere Stunden. Vielleicht gerade jene Stunden, die er sich für einen vernunftvollen, gemässigten Fernsehkonsum gönnen wollte.
«Warten» wird unter diesem Druck von Schnelligkeit und Masse zunehmend als wertlose Zeitvernichtung empfunden. Das Internet suggeriert uns eine Welt ohne Öffnungszeiten und Lieferfristen. Die unmittelbare Wunscherfüllung wird zum Zwang. Gewinnmaximierung bei der Arbeit – Erlebnismaximierung in der Freizeit. Die Entwertung des Wartens zeigt sich beispielsweise in unseren Ansprüchen an den öffentlichen Verkehr. Immer enger soll der Takt geschnürt werden, immer kürzer die Umsteigezeiten, bereits bei Verzögerungen von zwei, drei Minuten erwarten wir vom Betreiber eine Entschuldigung. Noch weniger Kredit hat die «Langeweile». Dabei verspricht sie wörtlich genommen eine lange Weile, also viel Zeit. Und damit genau das, was sich alle wünschen. Aber die Gesetze von Schnelligkeit und Masse vernichten die Langeweile, noch bevor sie überhaupt auftreten kann.
Der Computer trat mit der Verheissung an, uns die Zeit frei zu schaufeln. Eingetreten ist genau das Gegenteil, denn gerade die Schnelligkeit des Computers versetzt uns in ungeheure Zeitnot. Besonders offensichtlich ist diese Erfahrung bei der elektronischen Briefpost. Inzwischen generiert der Mailverkehr mehr Arbeit als er abnimmt. Er wird deshalb längst als Last empfunden. Anstatt den Computer für uns rennen zu lassen, rennen wir ihm hinterher, ohne dabei mit seiner Schnelligkeit und seinem Arbeitsvolumen auch nur annähernd Schritt halten zu können. Zurück bleiben immer stärkere Gefühle von Unzulänglichkeit.
Dennoch drosseln wir weder Arbeitstempo noch -volumen des Computers, sondern feuern diese immer weiter an und versuchen dann noch krampfhafter Schritt zu halten. Das führt dazu, dass wir unsere eigene Leistungsfähigkeit immer grotesker überschätzen. Unsere Festplatten quellen über vor Texten, die wir bei Gelegenheit lesen wollen. Sie bersten vor Bildern, die wir bei Gelegenheit bearbeiten wollen. Und sie laufen für Filme heiss, die wir in ferner Zukunft anschauen wollen. Wiederum spielt sich Paradoxes ab, denn je versierter ein Computer- und Internetnutzer ist, desto grösser wird die Zuwachsrate an zu verarbeitenden Inhalten sein und desto kleiner die Abtragsrate an verarbeiteten Inhalten. Kurz: Wir schlucken viel mehr, als wir je verdauen können.
Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt unsere Beschleunigungsgesellschaft in seinem Essay «Beschleunigung und Entfremdung» sehr anschaulich und überzeugend. Beispielsweise wie wir Gegenstände ersetzen, bevor sie kaputt gehen. Wer kann sich noch an ein Handy erinnern, das er deshalb entsorgt hat, weil es nicht mehr funktionstüchtig war. Uns bleibt nicht einmal die Zeit, neue Bedürfnisse zu entwickeln und uns dann nach dem Gerät umzuschauen, das diese Bedürfnisse befriedigen kann. Es verläuft genau andersrum: Die technische Innovation suggeriert uns Bedürfnisse, die wir zuvor gar nicht hatten. Wir wollen buchstäblich um jeden Preis auf der Höhe der Zeit sein. Und Rosa beschreibt eindrücklich, wie uns so die gemeinsame Geschichte mit den Dingen abhandenkommt und die Entfremdung von unserer Lebenswelt voranschreitet.
Die Beschleunigung wirkt sich aber auch auf unser Denken aus. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann erklärt in seinem Buch «Schnelles Denken, langsames Denken», wie der Mensch zu Entscheidungen findet. Wie wir beispielsweise zu schnellen Entscheidungen fähig sind, weil wir dafür auf spontan abrufbares Wissen zurückgreifen können – gewissermassen bereitgestellt in einem ultraschnellen Aktivspeicher. Sobald es dieser jedoch mit komplexeren und einzigartigeren Fragen zu tun bekommt, müssen andere, differenziertere, aber auch langsamere Bereiche in unserem Denken aktiviert werden. Wenn nun jedoch Schnelligkeit und Masse als oberste Grundprinzipien gelten, werden die langsamen Denkbereiche immer seltener zum Einsatz kommen. Wir können es uns in der Eile gar nicht leisten, neu und differenziert zu denken, sondern greifen auf schnell abrufbare Muster zurück. Dass Social Media von ultrakurzen Textformen dominiert werden, ist deshalb kein Zu-
fall. Je schneller die Kommunikation, desto bereitwilliger wird sie aus jeder noch so komplexen Frage eine einfache Frage machen, damit sie sich einer standardisierten Antwort bedienen kann. Schnelles Denken ist auch Denken in Klischees, denn diese setzen sich in der Herrschaft von Schnelligkeit und Masse in aller Deutlichkeit durch. Wer hat als Erstes seinen Kommentar produziert? Und wer spricht damit am meisten andere User an? Das produziert zwangsläufig Uniformität statt Vielfalt, denn interessant ist ja nicht das, was bloss einen kleinen Kreis anspricht. Für Schlagzeilen sorgt nicht das Ungewöhnliche, das Langsame, das Einzigartige, sondern das Schnelle, Allgemeine, Massentaugliche.
Das Schlagwort «Entschleunigung» ist schon seit längerer Zeit im Umlauf. Allerdings scheint es mehr eine diffuse Sehnsucht auszudrücken als einen konkreten Gegenentwurf zu Schnelligkeit und Masse. Nicht selten erhält man den Eindruck, Momente der «Entschleunigung» dienten im Grunde nur als Notstopps zum Auftanken. Am häufigsten findet Entschleunigung jedoch statt, wenn Schnelligkeit und Masse kollabieren. Wenn beispielsweise die Mobilitätsströme in Autostaus zum kompletten Erliegen kommen. Das ist aber nur das offensichtlichste von zahllosen Beispielen, in denen Schnelligkeit und Masse direkt in Chaos und Stillstand führen. Entschleunigung als Placebo und als Zusammenbruch – ist das alles, was bleibt? Diffuses Unwohlsein? Missmutiger Kulturpessimismus? Verbiesterte Technologiekritik?
Es gibt konstruktive Ansätze. Dazu gehört als Erstes, dass wir uns wieder als Mensch und nicht als Maschine fühlen. Indem wir uns beispielsweise dem Multitasking immer wieder entziehen. Multitasking ist ein besonders effektiver Zeitvernichter, weil sich die Zeitstruktur durch Aufeinanderlegen von Prozessen praktisch auflöst. Ein einfaches Beispiel kann dies illustrieren: Worin unterscheidet sich Mailverkehr wesentlich vom Telefonieren? Dadurch, dass man am Telefon – vorausgesetzt man hat keinen Anrufbeantworter – nur ein Gespräch gleichzeitig annehmen kann. Und wenn man im Gespräch ist, muss der nächste Gesprächswillige warten, bis die Leitung wieder frei ist. Im Mailverkehr dagegen kann man mit Dutzenden von Mails bombardiert werden, während sich nach wie vor nur eines aufs Mal beantworten lässt. Sich dem Multitasking zu verweigern, bedeutet den Versuch, Zuwachs und Abtrag von Informationen wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Eine zweite konstruktive Entschleunigungsstrategie trägt das altmodische Wort «Treue». Wer jenen Dingen die Treue hält, die ihm gute Dienste leisten, der macht sich zumindest etwas freier vom Schnelllebigkeits-Zyklus, in den uns die Werbeindustrie gewaltsam einbinden will. Es ist ein Akt von echter Autonomie, sich Bedürfnisse nicht diktieren zu lassen. Schliesslich sollten wir unsere Gier nach Erfahrung zügeln. Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, die eine Rosine zu entdecken. Sie besteht darin, eine ungeheure Masse von Rosinen abzulehnen, selbst wenn sich da-
runter womöglich täglich genau jenes Angebot verbirgt, das uns die grösste Freude des Tages bereitet hätte. Und als Viertes gilt es, Langeweile auszuhalten. Denn wer Langeweile erträgt, der wird sie als die unerschöpfliche und wahre Quelle unserer Kreativität entdecken.
Buchtipps
Gerhard Dohrn-van Rossum: «Die Geschichte der Stunde – Uhren und moderne Zeitordnungen» Anaconda Verlag 2007
Hartmut Rosa: «Beschleunigung und Entfremdung – Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit» Suhrkamp 2013
Daniel Kahneman: «Schnelles Denken, langsames Denken» Pantheon 2014
Wolfgang Schneider: «Die Enzyklopädie der Faulheit – Ein Anleitungsbuch» Eichborn Berlin 2003