Widmer & Binotto

Trainieren wir für nichts?

In naher Zukunft wird eine KI für mich Liebesbriefe schreiben, während ich Kurse in kreativem Schreiben besuche. So wird’s gehen: Die ganze Hand-Kopf-Herz-Plage geb ich ab, damit mehr Zeit fürs Training bleibt. Für Workout, Braingym und Social Media. Ich kompensiere so all meine alltäglichen Defizite, damit Körper, Geist und Seele nicht komplett verkümmern.

Scheint weit hergeholt, hat aber eine erstaunlich lange Tradition. Vermutlich haben bereits die alten Griechen den Sport nur deshalb erfunden, weil sie vom Alltag unterfordert waren. Die Mönche im Mittelalter erfanden Maschinen, um sich von körperlicher Arbeit freizumachen. Weil sie jedoch vergassen, den Vitaparcours mit­zuerfinden und das Starkbier abzusetzen, wurden sie zur Zielscheibe von Karikaturen.

Die Menschheit hat eine seltsame Neigung, sich die Quälerei im Alltag zu ersparen und diese dann ganz freiwillig in der Freizeit wieder auf sich zu nehmen. Ein anstrengungsloses Leben wird, sobald es eintritt, als völlig sinnlos empfunden. Und kein Erfolg schmeckt so süss wie jener, der hart erkämpft wurde. Während auf der einen Seite der Waage jede Art von Automatisierung für Erleichterung sorgt, wird die andere Seite mit höchst anstrengenden Ersatzhandlungen belastet, die dann für den offenbar notwendigen Ausgleich an Schweiss sorgen. Unsere Vorväter und -mütter würden sich wohl in den meisten Interviews mit Spitzensportlerinnen und -sportlerin total verstanden fühlen, bis ihnen klar würde, dass deren Arbeit darin besteht, sinnfrei einen Hang runterzubrettern, nutzlose Rackets zu schwingen und ziellos im Kreis zu laufen.

Transpirenzerklärung: Dieser Text wurde eigenhändig im Rahmen einer Ergotherapie geschrieben. Sie fand online statt.