Kirchenbauten sind in Ihrer Forschung wichtige Orte. Was können Kirchen?
Sie können uns einen Sinn geben für eine andere Art, in der Welt zu sein. Wer eine Kirche betritt, steht in einem Raum, der anders ist als ein Supermarkt, ein Bahnhof oder ein Büro. Die Art und Weise, wie wir in die Welt gestellt sind, transformiert sich.
Woran liegt das?
Am räumlichen Empfinden. Das kann sich durch die dicken Mauern der Kirche verändern. Durch die Stille. Oft auch durch Dunkelheit oder dadurch, dass es im Kirchenraum eigentlich nichts zu tun gibt. Manchmal spielt auch die zeitliche Verortung eine Rolle: Sonntagmorgen fühlt sich anders an als Montagmorgen. Kirchen können also einen Raum schaffen, in dem ein anderes Weltverhältnis möglich und erahnbar wird.
Wozu ist das gut?
Meine soziologische Grundthese lautet, dass wir derzeit in einem wachsend aggressiven Verhältnis zur Welt stehen. Ein anderes Verhältnis zur Welt ist also dringend nötig und wünschenswert.
Woran erkennen Sie dieses aggressive Verhältnis?
Wir müssen nur unsere To-do-Listen anschauen: Die sind immer endlos und scheinen zu explodieren. Wir fühlen uns dadurch regelmässig schuldig, weil wir ständig denken: Das wollte ich schon lange machen, jenes hätte ich dringend tun sollen, das wiederum kriege ich womöglich gar nicht hin. Aggression wächst auf allen drei Ebenen der sozialen Realität: Im Grossen verhalten wir uns gegenüber der Natur aggressiv, man denke nur an das Artensterben und die Klimakrise. Im Kleinen kämpfen wir mit wachsenden Burnout- und Depressionsraten. Und viele Menschen sind mit ihrem Körper und ihrer Psyche nicht zufrieden, wollen sich ständig optimieren. Dazwischen liegt die Ebene des sozialen Umgangs, den wir miteinander pflegen. Hier hat sich das Klima der kulturpolitischen Auseinandersetzung verändert: Krieg wird nicht mehr als Ausnahmefall betrachtet, sondern wieder als normal wahrgenommen.
Sie setzen dem die Resonanzerfahrung entgegen. Was passiert darin?
Resonanz ist eine Form der Beziehung. Es geht darum, wie ein Subjekt zur Welt rundherum in Beziehung tritt. Resonanz beginnt nicht damit, dass wir etwas tun, sondern damit, dass wir etwas wahrnehmen. Gerade so, als rufe uns etwas an. Etwas berührt uns, bewegt uns, erreicht uns. Und ich antworte darauf nicht mit dem Impuls «Das will ich haben! Das will ich kaufen!». Vielmehr öffne ich mich und gehe dem Anruf entgegen. Hören und antworten ist die Grundform einer Resonanzbeziehung, im Unterschied zu beherrschen, kontrollieren, dominieren.
Wie wird Resonanz ausgelöst?
Das kann ein Bild sein, das wir im Museum sehen, oder ein Wort in der Predigt oder auch ein Lied. Plötzlich ergreift uns etwas. Manchmal kann das so stark sein, dass uns Tränen in die Augen kommen. Tränen sind ein gutes Resonanzsignal. Es passiert eine Transformation, ich bleibe in der Resonanzbeziehung nicht derselbe. Ursprünglich ist Resonanz ein Begriff aus der Akustik, der ein Mitschwingen in feinen Vibrationen beschreibt.
Muss man Resonanz üben?
Nehmen wir an, jemand geht am Sonntag zum Gottesdienst, er macht das vielleicht einmal im Jahr oder sogar einmal in zehn Jahren. Er macht dabei eine starke Erfahrung, sodass er eine Resonanz empfindet. Er geht danach erneut zum Gottesdienst, aber die nächsten 90 Mal macht er diese Erfahrung nicht mehr. Dennoch werden ihn der Kirchenraum und der Gottesdienst immer wieder an seine Resonanzerfahrung erinnern und damit auch die Zuversicht wecken, dass solch eine Erfahrung möglich ist.
Kirchen können einen Raum schaffen,
in dem ein anderes Weltverhältnis
möglich wird.

Die Kirche St. Franziskus im bayerischen Burgweinting bei Regensburg lädt, wie alle Kirchen, zur Resonanzerfahrung ein.
Christian Richters
Welches sind die wichtigsten Elemente der Resonanz?
In meiner Forschung haben sich vier Elemente herauskristallisiert. Das erste Element: Nachdem uns etwas berührt hat, können wir Antwort darauf geben. Das zweite: Wir haben das Gefühl, wir erreichen die andere Seite, wir fühlen uns dem Gegenüber verbunden. Drittens: Wir fühlen uns dabei verwandelt. Manche sagen, sie kommen aus dem Gottesdienst anders heraus, als sie hineingegangen sind. Vielleicht ist ein neuer Gedanke aufgetaucht. Oder die Beziehung zur Welt hat sich fühlbar verändert. Und viertens: Wir können Resonanz nicht herstellen. Selbst wenn sie eintritt, bleibt sie unverfügbar und unkontrollierbar.
Sie schreiben, Ihr Lieblingswort sei «aufhören». Warum?
Zunächst bedeutet «aufhören» unterbrechen, nicht mehr weitermachen. Dann kann man es aber auch als «nach oben hören» verstehen. Lass dich von etwas anderem anrufen. Unsere kleine Kirche in Grafenhausen im Schwarzwald beispielsweise gefällt mir deshalb so gut, weil sie in der Decke aufstrebende Balken hat und ganz oben ein kleines Fenster, durch das Licht hereinfällt. Aufhören ist ein Sich-nach-oben-Richten, im Unterschied zu einer Kultur des gesenkten Blicks zum Handy.
Bald ist Ostern. Wenn Sie an die Geschichte von Jesu Tod und Auferstehung denken – lässt Sie darin etwas aufhorchen?
Mir ist wichtig, dass der Karfreitag zu Ostern gehört. Die Trauer, die da zu fühlen ist, das Leiden, das Trostlose, das sind essenzielle Momente. «Aufhören» heisst für mich, genau das auch zuzulassen, die Angst, den Zweifel, sogar die Sinnlosigkeit und den Tod. Ostern ist für mich dann ein «Trotzdem». Ich muss die Wüstenerfahrung der Welt nicht leugnen, trotzdem bietet sich ein Dahinter an. Das empfinde ich als sehr eindrucksvoll.
Sie beschreiben Resonanz als Ort der Entstehung von etwas unverfügbar Neuem. Ist Resonanz vergleichbar mit dem, was das Christentum an Ostern feiert: Sich hinzugeben und Neues entstehen zu lassen?
Ja, das könnte sein. Man findet diese Haltung auch in der Idee, dass der Geist Gottes dort weht, wo er will – und nicht dort, wo wir wollen. Damit wird Unverfügbarkeit deutlich gemacht. Und gleichzeitig etwas, das uns entgegenkommt. Und darin steckt auch ein ganz wichtiger Gedanke gegen den Irrglauben, wir müssten alles selbst tun. Wir müssten besser werden im Umweltschutz, wir müssten die Wirtschaft wieder in Gang bringen, wir müssten mehr in die Sicherheit investieren. Der Gedanke der Resonanz, der sich in der christlichen Religion auch in Theologie übersetzt hat, sagt: Lass es zu, dass da auch von anderer Seite Bewegung ausgeht, dass Neues nicht nur durch dein Tun entstehen kann.
Gibt es ein Kunstwerk, das für Sie diese Dynamik ausdrückt?
Ich habe meine ästhetischen Sensibilitäten vor allem im Bereich von Musik und Literatur, aber es gibt auch unglaublich sprechende bildende Kunst. Spontan kommt mir die Pietà von Käthe Kollwitz in den Sinn. Sie macht dieses Beziehungsmoment der Resonanz, von dem wir gerade mit Blick auf Ostern gesprochen haben, eindrücklich sichtbar.
Lass zu, dass von anderer Seite Bewegung ausgeht,
dass Neues nicht nur
durch dein Tun entstehen kann.

Ein Kunstwerk wie die «Pietà» von Käthe Kollwitz kann eine Resonanzerfahrung auslösen – individuell und unverfügbar.
Keystone
Neben der Resonanz beschäftigen Sie sich auch mit dem Lebenstempo, das immer schneller wird. Wie kam es dazu?
Manchmal fragt man sich: Wie kann es eigentlich sein, dass ich nie Zeit habe, wenn ich doch die ganze Zeit welche spare? Da gibt es also ein Paradox. Dann ist mir schon als Student aufgefallen: Fragt man Menschen, wie es ihnen geht, sagen sie häufig, dass es ihnen eigentlich gut geht, dass es nur gerade eben so hektisch sei. Da es aber fast immer für fast alle hektisch war, dachte ich, müsste man das «gerade eben» streichen. Und Hektik scheint nichts Individuelles zu sein, sondern etwas Kollektives. Ich wollte wissen, woran das liegt.
Ich lese Ihre Analysen dazu auch als Kritik an unserer Gesellschaft, die immer schneller wird.
Natürlich. Ein Antrieb zu wissenschaftlicher Forschung ist ja oftmals die Feststellung: Irgendetwas stimmt hier nicht! So ging es mir von Anfang an mit der so unterschiedlichen Zeiterfahrung zwischen Grafenhausen und London. Wir stehen mit dem Gefühl in der Zeit, andauernd in einem Hamsterrad zu laufen – allerdings ohne voranzukommen. Ich nenne das den «rasenden Stillstand».
Was befürchten Sie durch diesen rasenden Stillstand?
Dass sich die Aggression als Weltverhältnis so stark in unsere Körper einschreibt, dass wir uns gar keine andere Art mehr vorstellen können, in der Welt zu sein. Ich bin aber überzeugt: Wir brauchen Räume, die uns ein anderes In-der-Welt-Sein offenhalten.
Es geht Ihnen um «das gelingende Leben». Was verstehen Sie darunter?
Ich beschreibe neben den vier Elementen der Resonanz auch vier Achsen. Und ich definiere gelingendes Leben als eines, in dem diese vier Achsen in Schwingung sind. Da ist zum Ersten die soziale Achse: Die Resonanz mit anderen. In Liebe, Freundschaft, auch in der Politik oder in der Seelsorge. Zweitens die materielle Achse: Man kann mit manchen physischen Dingen, mit denen man sich Tag für Tag umgibt, in eine Resonanzbeziehung treten. Ein Kirchenraum ist ein Beispiel dafür. Oder der Brotteig, den der Bäcker bearbeitet. Die dritte Achse ist die Selbstachse der Resonanz: Ich kann mit mir selbst, mit meinem Körper, meiner Psyche, mit meiner Biografie in ein Resonanzverhältnis treten. Viertens schliesslich eine vertikale Resonanz, wenn wir mit dem in Schwingung treten, was man als umfassende Wirklichkeit wahrnehmen kann. Es wird Natur genannt oder Welt oder Kosmos oder Leben. In dieser Achse kommt Religion ins Spiel. Ich glaube, «Gott» steht für die Vorstellung, dass am Grund unserer Existenz eine Antwortbeziehung steht und nicht ein schweigendes Universum.
Religionen stärken den Sinn dafür,
dass da draussen etwas ist,
das mich anruft.

Die Natur kann gerade in unverzweckten Momenten eine Resonanzquelle sein.
Keystone
Hatte Jesus in diesem Sinn ein «gelungenes Leben»?
Es fällt mir schwer, das auf Jesus anzuwenden … Ich würde zunächst davon ausgehen, dass er im vertikalen, existenziellen Resonanzsinn über eine starke Achse verfügte. Dann hat er bestimmt auch eine Art von Selbstresonanz gelebt, ich stelle ihn mir so vor, dass er mit sich selbst im Reinen war. Und er hatte seine Jünger, mit denen er wohl eine Resonanzbeziehung gepflegt hat. Ich würde also davon ausgehen, dass Jesus in diesem Sinn ein gelungenes Leben hatte. Aber wir sehen gerade bei ihm auch, dass gelingendes Leben nicht bedeutet, keine Phasen der Entfremdung zu durchleiden. Die Evangelien erzählen, dass auch bei Jesus die Resonanzachsen nicht immer ohne Einschränkungen geschwungen haben. «Mein Vater, warum hast Du mich verlassen?» – dieser Schrei Jesu am Karfreitag ist ein radikaler Ausdruck des Verlusts einer Resonanzbeziehung. Ich glaube, niemand ist in Dauerresonanz, nicht einmal Jesus.
Gilt es, Entfremdung unter allen Umständen zu vermeiden?
Ursprünglich dachte ich das. Dann habe ich festgestellt, dass das zu einfach ist. Wir können inzwischen sogar empirisch zeigen, dass Menschen, die intensive Resonanzerfahrungen erleben, immer auch intensive Entfremdungs-Erfahrungen machen. Genau das würde ich auch für Jesus diagnostizieren. Vermutlich hat er über intensive Resonanzbeziehungen und -erfahrungen verfügt. Aber er kannte auch diese menschlichen Wüstenphasen der Dürre und Resonanzlosigkeit.
Jesus hat auch Hass auf sich gezogen. Ist Hass ebenfalls eine Form der Resonanz?
Ich sehe Hass nicht als Form der Resonanz. Hass ist die völlige Verneinung des anderen, der Abbruch der Beziehung: «Ich will dich weghaben». Ans Kreuz geschlagen zu werden, kann für niemanden eine Resonanzerfahrung sein.
Sie haben ein Buch mit dem Titel «Demokratie braucht Religion» veröffentlicht. Weshalb?
Religionen stärken den Sinn dafür, dass da draussen etwas ist, das mich anruft, das mich etwas angeht, das nicht ich selbst bin. Ich bin überzeugt, dass Demokratie genau diese Anrufbarkeit braucht. Es geht mir also nicht um Kirche oder um Institutionen. – Ich glaube übrigens, dass es damit in der Schweiz etwas besser funktioniert – bei allem, was man auch kritisieren kann.
Woran genau denken Sie?
Dass wir uns als Menschen begegnen, als Bürgerinnen und Bürger, die einander etwas zu sagen haben. Dass mir der andere etwas zu sagen hat, obwohl er aus meiner Sicht zunächst mal – verzeihen Sie – ein Depp ist. In Deutschland spüre ich momentan jedoch eine starke gegenseitige Dämonisierung und die Gräben zwischen den Parteien sind tief bis zum Hass.
Sehen Sie einen Weg aus dieser Verbitterung?
Demokratie ist das Versprechen, dass jeder eine Stimme hat. Zur Stimme gehören aber auch Ohren. Es geht nicht nur darum, dass ich «es» mal gesagt habe, sondern auch, dass ich höre, mich vom anderen erreichen und potenziell transformieren lasse. Das ist die Haltung der Anrufbarkeit. Religionen sind eine Möglichkeit, das zu üben.
Resonanz ist also keine Einbahnstrasse.
Genau. Bei einem Resonanzangebot habe ich den anderen nicht schon völlig begriffen. Es bleibt da eine Irritation: «Moment mal, das kenne und verstehe ich noch nicht ganz.» Und es kann etwas qualitativ Neues in mir entstehen. Wenn mir jemand hingegen nur ein gutes Gefühl gibt, so in etwa: «Der sagt endlich, was ich schon immer dachte», dann ist das nicht Resonanz, obwohl es mich vielleicht entzündet. Resonanz bedeutet eine Offenheit der Beziehung.
Der Katholizismus verfüge über mehr und andere Resonanzqualitäten als der Protestantismus, sagten Sie einmal.
Als Kind wollte ich katholisch werden, weil ich meine Kameraden darum beneidete. Warum? Max Weber, ein Klassiker der Soziologie, hat das gut beschrieben: Für gläubige Katholiken ist die Welt voller Resonanz. Man betritt eine Kirche, bekreuzigt sich am Weihwasserbecken. Die Berührung mit dem Wasser macht etwas mit mir – sie ist eine materielle Resonanz. Dann das ewige Licht, die Idee der Gegenwart Gottes. Mit den Heiligen kann man in Beziehung treten, der Weihrauch zieht in die Nase, das Kreuz am Wegesrand erinnert mich. Die Protestanten haben das Meiste davon stummgestellt. Es geht stark um das Wort und um den Verstand. Vielleicht wurden dadurch aber auch neue, vielleicht sogar tieferliegende Resonanzquellen erschlossen, in der Kunst, in der Musik, in der Natur.
Weihwasser und Musik hin oder her: Warum erzeugen die grossen Kirchen nur noch so wenig Resonanz?
Das ist ein grosses Rätsel. Rituale können eben auch erstarren. Dann erleben wir sie, die eigentlich Resonanz auslösen sollen, umso stärker als entfremdend. Du sitzt in der Kirche und denkst: «Das sagt mir gar nichts mehr.» Ich glaube, es hängt auch mit dem modernen Versprechen zusammen, wir könnten uns die Welt verfügbar machen. Dazu hat die Kirche eben wenig anzubieten. Sie macht gar nichts verfügbar. Jetzt, wo wir allerdings nach und nach merken, dass es mit dem Verfügbarmachen nicht so richtig klappt, ist vielleicht Zeit für eine Neubesinnung.
Angesichts all der Beschleunigung geraten langsamere Systeme unter Druck. Sollen sich die Kirchen fügen, um nicht unterzugehen? Oder werden sie gerade dann untergehen, wenn sie sich anpassen?
Ich glaube, sie würde gut daran tun, sich nicht anzupassen. Allerdings nicht mit dem Gefühl, abgehängt zu sein, sondern im Bewusstsein und in der Absicht, Resonanzräume zu schaffen. Ich würde nicht bedingungslos in die moderne Logik des Verfügbarmachens eintreten. Wird das Lied «Meine Zeit steht in deinen Händen» eigentlich auch in der katholischen Tradition gesungen?
Ja.
Da geht es um eine alternative Form, um das, was man Sakralzeit oder Heilszeit nennen kann. Das scheint mir wichtig. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit meinem Vater. Er hatte Weihnachten satt. «Seit 2000 Jahren immer das Gleiche», murrte er. Darauf sage ich: Ja genau, darum geht es.
Buchtipps
— Demokratie braucht Religion.
Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis
Schmales Büchlein, breite Bedeutung: zu einem Thema, das aktueller ist denn je.
Hartmut Rosa, Kösel 2022
— Resonanz.
Eine Soziologie der Weltbeziehung
Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.
Hartmut Rosa, Suhrkamp 2018