Theologische Köpfe
Der Kindsvater, der zum Kirchenvater wurde
Er sah sich als Verteidiger der rechten Lehre. Seine Schriften prägen die Theologie bis heute, aber auch sein negatives Bild von Leiblichkeit.
Markus Zimmer
Erschienen am 30.12.2024
in Ausgabe 01/2025
Rom, im Sommer des Jahres 386: Weinend sitzt Augustinus, ein gefragter Rhetoriklehrer, unter einem Feigenbaum, von Zweifeln zerrissen. Drei Jahre lebt er nun in Rom. Die geliebte Mutter seines Sohnes, mit der er nicht verheiratet war, musste die junge Familie verlassen – weil Augustinus’ Mutter Monika eine standesgemässe Frau für ihn ausgesucht hatte. Mit ihr war er aber noch nicht zusammengekommen, weil sie noch zu jung war. Seit einiger Zeit befasst er sich immer intensiver mit dem Christentum. Dieser Gott fasziniert ihn. Aber Christ werden und mit dem bisherigen Leben brechen? In dieser Krise hört er einen Singsang spielender Kinder: «Nimm, und lies! Nimm, und lies!» Als wäre es eine göttliche Aufforderung, nimmt er das erstbeste Buch, das ihm in die Hände fällt – es ist die Bibel –, schlägt sie irgendwo auf und beginnt zu lesen: «Lasst uns leben ohne Völlerei, ohne Unzucht, ohne Zank und Neid, sondern zieht Jesus Christus an.» (Röm 13,13f). Diese Stelle aus dem Römerbrief treibt ihn dazu, sich taufen zu lassen. Doch warum erst so spät?
Damals kannte man die mehrmalige Beichte noch nicht. Sünden wurden in der Taufe vergeben. Beging man danach neue Sünden, lief die Seele Gefahr, das Heil zu verlieren. Aus Vorsicht also war Augustinus nicht als Kind getauft worden – und als Jugendlicher wollte er es nicht mehr. Seine Mutter, die heilige Monika, eine fromme Christin, leidet sehr darunter, dass ihr Sohn sich den vom Kaiser verbotenen Manichäern anschliesst. Die junge Sekte sah in Jesus zwar das Licht der Welt (Joh 8,12), vermischte aber die christliche Lehre mit Buddhismus und dem persischen Zoroastrismus. Als diese Lehre Augustinus nicht mehr trägt, wendet er sich Philosophen zu, die Platon wiederentdeckt haben. Beides prägt ihn nachhaltig: Zeitlebens sieht er im Geistigen das Gute und im Materiellen und Irdischen den Hang zum Bösen.
Am Karsamstag 387 empfangen Augustinus und sein Sohn die Taufe durch den Mailänder Bischof Ambrosius. Es ist der endgültige Bruch mit seinem bisherigen Leben. Auch räumlich nimmt er Abstand von seinem «falschen» Weg: Er zieht zurück nach Nordafrika und macht dort Karriere: Er wird Priester. Fünf Jahre später ist er Bischof von Hippo Regius, dem heutigen Annaba im Nordwesten Algeriens.
«Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.»
Augustinus (354–430)
Hier beginnt er, sein Leben aufzuschreiben. Augustinus will damit keinen Voyeurismus bedienen, sondern erklären, wie der Glaube seine Persönlichkeit verändert hat: Als junger Mann noch ein Getriebener und Suchender, voll innerer Unruhe, merkte er intuitiv, noch nicht am richtigen Platz im Leben zu stehen. Seit er sein Leben aber nach dem Glauben ausrichtet und es in den Dienst Gottes gestellt hat, ruht er in sich – und in Gott.
Diese Selbst- und zugleich Gotteserfahrung will Augustinus den Menschen in seiner Autobiografie, den «Bekenntnissen» (Confessiones), zugänglich machen: Darin lobt und dankt er Gott dafür, erkannt zu haben, dass sein ganzes Leben ein Weg auf Gott zu ist. Der Mensch ist Weg und Pilgerschaft, und Gott ist Ziel. Diese Erkenntnis verdankt Augustinus seiner inneren Reifung. Mancher Irrglaube hat diese Reifung gefördert, auch Schicksalsschläge wie der Tod eines Freundes oder das Leben als alleinerziehender Vater.
Sein Sohn stirbt mit 16 Jahren. In den «Bekenntnissen» heisst er Adeodat, zu Deutsch: Geschenk Gottes. Vermutlich nennt Augustinus seinen Sohn erst nach dessen Tod so, weil er erkennt, welch grosses Glück dieses ungeplante Kind doch für ihn war. Der Junge scheint sehr begabt gewesen zu sein, denn gleich nach dessen Tod verfasst Augustinus ein fiktives Gespräch mit ihm über Grundfragen des Lebens. Noch zu Lebzeiten hat Augustinus ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Sohn: Er nennt ihn die ungewollte Folge seiner verachtenswerten Leidenschaft, sein «Sohn dem Fleische nach, in der Sünde von mir erzeugt». Dass Adeodat sich aber im Rückblick als Teil des richtigen Weges herausgestellt hat, schreibt Augustinus nicht sich selbst zu: «Du – Gott – hast ihn geschaffen. Ich hatte an dem Jungen keinen Anteil als meine Sünde.»
Das ist der zentrale Gedanke in den «Bekenntnissen»: Das unruhige Herz kommt erst zur Ruhe, wenn der Mensch den Weg erkennt, der zu Gott führt und auf dem Gott ihm entgegengeht. Das entspricht einer göttlichen Ordnung. Diesen Weg zu finden, ist aber laut Augustinus nie das Verdienst des Menschen, sondern ein Geschenk Gottes.
Je älter Augustinus wird, desto drastischer warnt er vor den Folgen, wenn man sich – wie er in seinem früheren Leben – diesem Geschenk verweigert und den sündigen Weg wählt: Ein solcher Weg führe als Strafe Gottes geradewegs in die Hölle. Augustinus’ Bild vom strafenden Gott wird für Jahrhunderte die Frömmigkeit bestimmen und belastet die Theologie bis heute. Heute werden die «Bekenntnisse» aber wieder mehr gelesen als seine späteren Schriften: Der gnädige, schenkende Gott, von dem Augustinus hier schreibt, scheint im Leben eher zu tragen als ein strafender.
Dieser Text gibt Ereignisse und gibt Beurteilungen wieder, von denen Augustinus selbst in seinen «Bekenntnissen» berichtet.
Die benutzten Quellen und ausgewählte Schriften zu Augustinus sowie diesen Text mit Anmerkungen finden Sie bis Ende Januar im Lesesaal der Jesuitenbibliothek Zürich.
www.jesuitenbibliothek.ch