Laut einer am 25. Januar vorgestellten Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der mutmasslichen Täter liegt bei 3497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet und in Hannover veröffentlicht. Nach Angaben der Wissenschaftler zeigt die Untersuchung nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs». Ausgewertet wurden demnach rund 4300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und rund 1320 weitere Unterlagen. Zum Vergleich: Bei der MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz 2018 wurden rund 38 000 Personalakten durchgesehen.
Weiter heisst es in der Forum-Studie, dass rund 64,7 Prozent der Opfer männlich und rund 35,3 weiblich waren. Bei den Beschuldigten handelt es sich demnach fast ausschliesslich um Männer (99,6 Prozent). Rund drei Viertel von ihnen waren bei der Ersttat laut Studie verheiratet.
Die EKD hatte die Studie vor gut drei Jahren für rund 3,6 Millionen Euro in Auftrag gegeben. Die Forscher sollten alle Landeskirchen sowie die Diakonie mit einbeziehen. Die Studie enthält sechs Teilstudien, in denen Ursachen und Besonderheiten von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht werden. Auch Betroffene waren beteiligt. Ziel ist eine Gesamtanalyse evangelischer Strukturen und systemischer Bedingungen, die sexualisierte Gewalt begünstigen und ihre Aufarbeitung erschweren.
Auch in der Schweiz besteht Handlungsbedarf
Rita Famos, Präsidentin der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, will den Missbrauch auch in der Schweiz untersuchen. «Wir können uns nicht verstecken hinter der Tatsache, dass wir -flache Hierarchien haben», sagte Rita Famos nach dem Erscheinen der Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche Deutschlands. «Religiöse Autorität beinhaltet das Risiko für spirituellen Missbrauch. Dieser Missbrauch ist besonders schlimm, weil er die Integrität eines Menschen gleich mehrfach, geistlich, körperlich und psychisch zerstört.» Daher sei es notwendig, auch in der Schweiz eine Missbrauch-Studie in Auftrag zu geben. Da gebe es aufgrund der stark föderalistischen Struktur der reformierten Kirche auch Schwierigkeiten: «Die bestehen aber nicht in der Willensbildung. Alle wollen das Problem angehen. Aber die Datenlage ist nicht einfach. Wir suchen im Moment nach einem guten Weg, eine solide Datenlage zu ermöglichen und damit zu Ergebnissen zu kommen, die uns wirklich voranbringen.» Auch eine geplante unabhängige Meldestelle für sexualisierte Gewalt und Grenzverletzungen in der reformierten Kirche brauche deshalb mehr Zeit als gehofft. Der ty-pische Föderalismus wird auch in der deutschen Studie als Grund für die Verantwortungsdiffusion in evangelischen Kirchen diagnostiziert.
kath.ch