Am 21. September 2005 wurde auf dem Petersplatz Fussball gespielt. Kein verschämtes Ballschubsen zwischen auserwählten Klerikern, auch keine verbotene Ballstafette von Guerilla-Kickern und kein Trainingsspiel des FC Guardia. Vom Vatikan und dem italienischen Fussballverband organisiert, fand vor einmaliger Kulisse ein Kleinfeldturnier mit 500 Kindern statt. Ein Projekt, das zugunsten bedürftiger Kinder aus Osteuropa ins Leben gerufen wurde. Bereits im Juni 2002 waren bei einem ähnlichen Anlass über 3000 Kinder in der Via della Conciliazione dem Ball nachgerannt, auf jener Strasse, die direttissima zur Peterskirche führt.
Lebensschule
Als der Fussball in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England allmählich seine moderne Form erhielt, hatten die Kirchen ihren Anteil daran. Man erkannte im Fussball eine Schule fürs Leben, die einem Werte wie Gerechtigkeit, Disziplin und Pflichtbewusstsein beibringen konnte. Das schien dringend notwendig, denn die Schulen mussten sich gegen randalierende Jugendliche wehren. Diese sollten nun einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung zugeführt werden, bei der sie gleichzeitig Aggressionen ab- und Selbstkontrolle aufbauen konnten. Allerdings hatten nicht alle Kirchenvertreter ihre Freude am Kampf ums runde Leder. Am 19. Dezember 1909 gründeten achtzehn Mitglieder der «Jungsolidität Dreifaltigkeit» enen Fussballklub. «FC Dreifaltigkeit» kam nicht in Frage, weil die Gründung gegen den Willen des Vikars geschah. Also benannten die Jungsoliden den Klub nach ihrem Lieblingsbier: «Borussia Dortmund». In Venezuela wäre die Abneigung des Vikars sicher auf Unverständnis gestossen. Dort lässt Jesus die Kinder zu sich kommen – und spielt mit ihnen Fussball.
Kathedralen
Fussballstadien werden oft Kathedralen der Neuzeit genannt. Das neue Stadion in München demonstriert, weshalb. Für alle, die keine Wallfahrt dorthin unternehmen, inszeniert das Internet den Fussballtempel der Basler Architekten Herzog & De Meuron in seiner ganzen Pracht. Wie in Kirchen kommt der Lichtgestaltung herausragende Bedeutung zu, und wie der Chorraum den Blick aufs Allerheiligste lenkt, so konzentriert sich im Stadion alles auf das Feld, das für 90 Minuten oder etwas mehr die Welt bedeutet. Englische Stadien sind seit jeher berühmt für ihre überw.ltigende Akustik. Die Fangesänge der Briten sind denn auch genauso eingängig wie ihre Kirchenlieder. Wem läuft es nicht kalt den Rücken runter, wenn unter Trompetenfanfaren das «Herbei, o ihr Gläubgen» geschmettert wird. Auch das ist ein Fangesang – oder der Fan ein verkappter Chorknabe. Selbst die Mantelnutzung war bei den Kathedralen eingeplant: Um die Kirche lag das bevorzugte Marktgelände. Im Stadion des FC Schalke 04 finden sakraler und fussballerischer Raum wieder zusammen: Am 12. August 2001 wurde in einem ökumenischen Gottesdienst eine Kapelle eingeweiht. Es war nach dem Camp Nou in Barcelona die zweite in Europa.
Busspraxis
Der Strafraum ist die theologisch vielleicht interessanteste Zone des Fussballfeldes. Wenn hier ein Spieler gefoult wird, gibt es einen Penalty, also eine Strafe. Diese wird, wenn der Schütze trifft, verwandelt. Und wenn er nicht trifft? Dann wird sie vergeben. Die ganze fussballerische Busspraxis ist christlich geprägt. Wer seine Mitspieler gefährdet, beschimpft, unfair handelt oder sich anderswie gemeinschaftsschädigend benimmt, wird ausgeschlossen. Hat er seine Strafe abgesessen, darf er wieder mittun, als sei nichts gewesen. Wenn sich ein Spieler für ein Foul rächt, das an ihm begangen wurde, dann wird dies härter bestraft als das Vergehen, das ihn provoziert hat. Wer ein solches Revanche-Foul begeht, muss vom Platz – und vielleicht erinnert er sich dann sogar daran, dass die Regel «Auge um Auge, Zahn um Zahn» im Fussball durch «Liebe deine Feinde» ersetzt wurde. Der Schiedsrichter bewegt sich auf dem Feld wie in einem riesigen Beichtstuhl: Er ruft die Bahre für gefallene Männer, ermahnt zur Versöhnung, sorgt für Gerechtigkeit und übersieht so manches, was in seinem Rükken geschieht.
Systemsprenger
Zu jeder Fernsehübertragung gehört die Einblendung der taktischen Mannschaftsaufstellung. Wem wird welche Rolle zugeteilt? Wer steht im defensiven Mittelfeld? Stürmen wir heute mit einem oder mit zwei Männern? Hat sich Köbi Kuhn [2006 Trainer der Fussball Nationalmannschaft der Männer] für ein 4-3-3- System entschieden? Wenige Wörter fallen bei Vor-, Während- und Nachbesprechungen von Spielen so häufig wie «System». Vom Gespenst des Catanaccio haben sich italienische Mannschaften bis heute nie ganz befreit. Die französische Nationalmannschaft war jahrelang fast unschlagbar, weil sie ihr System schlafwandlerisch sicher beherrschte. Wenn alle Einzelteile einer Mannschaft sich nahtlos zusammenfügen und ein System bilden, dann ist das für Zuschauer wie Spieler ein wahres Glücksgefühl. Und dennoch entstehen Tore erst, wenn das System geknackt wird. Wenn jeder Spieler ausschliesslich das tun würde, wozu er aufgestellt wurde, dann wäre Fussball todlangweilig. Guter Fussball braucht deshalb Rebellen, die sich nicht ans System halten. Genauso wie die Kirche ihre Vitalität Männern und Frauen verdankt, die zwar das System der Kirche verinnerlicht haben, sich aber dennoch die kreative Grenzüberschreitung zutrauen. Im Fussball heissen die Kreativen Stars – in der Kirche Heilige.
Grenzenlos
Fussball grenzt niemanden aus. Die Grundregeln sind denkbar einfach. Auf jedem Niveau kann er gespielt und genossen werden. Kinder beschreiben ihre eigenen Tore genauso spektakulär wie Fernsehkommentatoren Ronaldinhos Übersteiger. Mit allem, was irgendwie kullert, lässt sich auch dribbeln. 2006 finden in Deutschland die Bolz-WM, eine Strassenfussball-WM und eine WM für mental Behinderte statt. Sogar gegenüber Frauen hat sich der einstige Männersport geöffnet: 2007 wird in China die fünfte Frauenfussball-WM stattfinden. Selbst jene, die nicht Fussball spielen, gehören dazu: als zwölfter Mann auf den Rängen. Von der «Fussball-Gemeinde» wird niemand ausgeschlossen. Trotz der Unsummen, die dieser Sport inzwischen umsetzt, ist es ein Spiel der Amateure und Dilettanten geblieben, ein Spiel ohne Klassen-Grenzen. Diese soziale Dimension erkannten die Kirchen früh. Und in der gemeinsamen Liebe zum Fussball blitzt bis heute auf, dass die Soziallehre der katholischen Kirche wohl doch nicht so weit von der Sozialpolitik der Gewerkschaften entfernt ist, wie man annehmen möchte.
Rituale
Was in der katholischen Kirche als altmodisch und verstaubt belächelt wird, darf man im Fussball hemmungslos feiern. Rituale, wohin das Auge blickt: Der feierliche Einzug der Spieler, das Herunterbeten der Spielerlisten, das Erheben zur Welle, endlos repetierte Fangesänge, die kollektive Trauer und befreiendes Jubilate. Selbst das Fussballjahr ähnelt in manchem dem Kirchenjahr: Es gibt spielfreie Zeiten, eine sich steigernde Spannung bis zum Saisonhöhepunkt, Matchpflicht, opulente Champions- League-Abende und karge Werktagsspiele und alle vier Jahre das «Heilige Weltmeisterschaftsjahr». Als katholisch möchte man nicht gerne ertappt werden – das Schweizerkreuz und die Farben seines Vereins dagegen trägt man stolz zur Schau und legt ungefragt sein Bekenntnis ab. Fussballfans leben ganz selbstverständlich Rhythmus und Brauchtum, während die Kirche nur noch als Ritualverwalter erscheint. Das vielleicht schönste Zitat zum Fussball stammt ausgerechnet von einem Papst: «Fussball ist das Heraustreten aus dem versklavten Ernst des Alltags in den freien Ernst dessen, was nicht sein muss und deshalb so schön ist.» Benedikt XVI. hat das gesagt – und man ist versucht weiterzudenken: «Wie schön, wenn dasselbe auch dem Glauben gelingt.»
Anmerkung des Autors vom 30. Juni 2025
Seit 2006 hat sich in meiner Sicht auf Fussball einiges verändert: Der von Männern gespielte und medial hochgeputschte Fussball interessiert mich inzwischen fast gar nicht mehr. Und meine damalige Ignoranz für den von Frauen gespielten Fussball wird mir schmerzlich bewusst. – Auch daraus liesse sich eine Flanke in den Strafraum der Römisch-katholischen Kirche schlagen. Ein Strafraum, der immer noch beherrscht wird vom Abwehrfussball selbstverliebter Männer, die nach wie vor glauben, Frauen könnten auf diesem Spielfeld nur untergeordnete Rollen wahrnehmen.